Solange das Frühstücksei kocht

Zurück in die Wirklichkeit: Der ungarische Schriftsteller István Örkeny schuf mit seinen „Minutennovellen“ in den Fünfzigerjahren eine neue Gattung

… von der Tulpe, die sich vom Balkon stürzt, weil sie keine Tulpe mehr sein will

Nach 1945 war die Kurzgeschichte als literarische Gattung in Deutschland groß in Mode, was gewöhnlich damit begründet wurde, dass man um jeden Preis Anschluss an die (amerikanische) Moderne finden wollte – oder mit dem damals vorherrschenden Papiermangel. Denn Kurzgeschichten konnte man in Zeitungen abdrucken. Spätestens seit im letzten Herbst im Suhrkamp Verlag ein Band mit dem Titel „Minutennovellen“ erschienen ist, kennen wir einen gewichtigeren Grund für den literarischen Nachkriegstrend zum Kurzen: Das Einzige, was man damals sparen konnte, war – Zeit.

So jedenfalls begründete der ungarische Schriftsteller István Örkeny die von ihm kreierte literarische Gattung. Seine „Minutennovellen“ erschienen erstmals Anfang der 60er-Jahre in Ungarn. Um die 400 solcher „Novellen, die man in einer Minute gelesen haben kann“, hat Örkeny zwischen 1944 und 1968 verfasst, und in der „Gebrauchsanweisung“, die er den Texten voranstellte, imitierte er die Werbetexte der Fünfzigerjahre: „Solange das Frühstücksei kocht, bis die gewählte Nummer (sofern sie besetzt war) endlich antwortet, lesen Sie eine Minutennovelle!“

Was man dann liest – so zwischen Tür und Angel, wie es scheint –, sind sprachlich höchst präzis gedrechselte, skurrile Geschichten, die gewiss nicht in Minuten – eben nicht zwischen Tür und Angel – geschrieben wurden. Man kann sie zwar in Minuten lesen, aber dann gehen sie einem nicht mehr aus dem Kopf.

In Wirklichkeit dürfte die damalige Liebe zur kurzen Form noch von etwas anderem zeugen: vom fehlenden Glauben in die Zukunft nämlich. Wer wusste schon nach Kriegsende und erst recht unter dem Stalinismus, ob es einen nächsten Tag geben würde, an dem man würde weiterlesen/weiterschreiben können? Und wer glaubte damals an ein planbares, auf überübermorgen ausgerichtetes Leben, das einen längeren Erzählatem ermöglicht hätte?

Im Mittelpunkt der Novellen also steht weniger das Lesen, denn das Leben zwischen Tür und Angel, anders gesagt: die Überlebensversuche des Einzelnen inmitten der alltäglichen Notwendigkeiten und gesellschaftlichen Zwänge – im Mittelpunkt steht jener kleine Moment, in dem das Individuum, obgleich eingezwängt, seines absurden Daseins gewahr wird.

Was aber ist das für ein Minuten-Leben? Zunächst umfasst es all die Widrigkeiten des Alltags. Auf der Treppe trifft man immer den gleichen verhassten Nachbarn, mit dem einen das Schicksal des Kohlen-Schleppen-Müssens verbindet: „Das ist Ihre Schuld“, sagt einer der beiden Kohlenträger zum anderen. „Wie können Sie so was sagen? Das haben wir nicht gewollt.“ Auf die Frage, wer es denn dann gewollt habe, lautet die Antwort „Vielleicht gar keiner.“ – Um welche Schuld es geht, bleibt unklar. Aber sie wirkt fort.

Außerdem ist Örkenys Minuten-Leben grotesk – etwa wenn Menschen die gleiche Sprache sprechen und es dem Herrn im Café gleichwohl nicht gelingt, einen Kaffee zu bestellen. Ein Ungar trifft in Italien auf einen gesuchten Nazimörder, den er aus seiner Lagerzeit wiedererkennt, doch er kann es niemandem mitteilen, da er nur Ungarisch spricht. So sind die Mörder weiter unter uns, weil niemand über seinen (individuellen oder nationalen) Schatten springen kann.

Womit wir beim dritten Aspekt des Minuten-Lebens wären, dem Schicksal. In „Du nicht“ werden Versatzstücke von Todesanzeigen aneinander gereiht, die alle den Tod selber aussparen, bis der letzte Satz alle Hoffnung des Lesers, er selber könne dem Tod entkommen, mit einem einfachen „noch“ zunichte macht: „Du noch nicht!“ – Ein anderes Schicksal, dem die Menschen ausgeliefert sind, ist das der ungarischen Nation, „jener kleinen Nation, die bei ihrer Geburt am schönsten war“.

Das wirkliche Leben ist für Örkeny zu banal, als dass es erzählt werden könnte, deshalb muss man es erfinden, mitunter auch surreal wenden. Doch das Surreale ist keine geschlossene fantastische Welt, sondern bricht auseinander – in die Wirklichkeit zurück. So die Geschichte von der Tulpe, die sich den Balkon herunterstürzt, weil sie keine Tulpe mehr sein will, und sogar einen Abschiedsbrief hinterlässt: „So was habe ich noch nie gehört“, erklärt am Ende die Tulpenbesitzerin.

Die „Minutennovellen“ tragen die Charakteristika der Novelle, nur muss alles schneller und eindeutiger sein (eine übersetzerische Herausforderung, die Teresia Mora wunderbar bewältigt hat). Sie erinnern an den Comicstrip der amerikanischen Zwischenkriegszeit: Auf äußerst kleinem Raum (meist einem Streifen) musste es gelingen, durch kleine, präzise Striche, Andeutungen, durch minimalste Sprechblasentexte und durch Titel, die jeder Geschichte eine spezifische Wendung gaben, die großen Fragen des Lebens zu bannen.

MARIE LUISE KNOTT

István Örkeny: „Minutennovellen“. Ausgewählt und aus dem Ungarischen übersetzt von Terésia Mora. Mit einem Nachwort von György Konrád. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002, 176 S., 12,80 €