piwik no script img

Archiv-Artikel

Der Lieblingsteutone

Rudolf Bahro war in der DDR umstellt von Duckmäusern, Verrätern und Apparatschicks. Kein Wunder, dass sich Herzbergs und Seiferts Biografie über den Philosophen oft wie ein Kriminalroman liest

Schließlich wird er ins Gummikombinat strafversetzt, da er zu häufig „aber“ sagt

von MANFRED KRIENER

Man musste diesen kleinen großen Mann einfach mögen. Die bestürzende Leidenschaft, mit der Rudolf Bahro ein ganzes Leben lang um gesellschaftliche Veränderung rang, hatte eine gewaltige Sogwirkung. Dazu sein Lächeln, sein labyrinthischer theoretischer Hintergrund, seine Ernsthaftigkeit, seine Freundlichkeit. Ein Bild bleibt unvergessen: Bahro im Krankenbett, abgemagert, sterbenskrank, ein Eisbeutel hängt schief auf seinem von der Chemotherapie kahlen Kopf, etliche Schläuche und Apparate umwirren ihn, auf dem Stuhl steht ein Dürer, daneben der mit Beethoven und Schubert gespeiste Stereoturm. Und er redet mit der typischen Bahro-Verve über Gott und die Welt und warum der Mensch nicht des Menschen Wolf sein muss.

Bis zuletzt hat er auf dem Marx’schen Imperativ bestanden, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes und geknechtetes Wesen ist. Natürlich klang das in seinen letzten Jahren ein wenig anders: Da sprach Bahro viel von der „Neubegründung des Gemeinwesens“ und forderte die lebendigen Kräfte auf, das Hamsterrad zu verlassen, sich „herauszudenken und herauszufühlen“ aus dem „Imperium der Megamaschine“. Er suchte intensiver denn je nach der Vision, wie die Menschheit jenseits des Zerstörungsprozesses der Moderne funktionieren könnte.

Selbst die Stasi konnte sich in ihren Denunziationsritualen dem „Charismatiker Bahro“ (Die Zeit) nicht entziehen. Heerscharen von Denunzianten und Verrätern, die auf ihn angesetzt waren, machten ihm unfreiwillig immer wieder schöne Komplimente. O-Ton IM „Büchner“: Bahro verblüfft mit „immensem Faktenwissen und ist in der Lage, jede These sofort mit beliebig vielen Beispielen aus der Weltgeschichte zu untermauern, wobei dies in gleichem Maße für Gebiete der Politik wie der Ästhetik gilt.“ Ein anderer Stasimann beschreibt „voller Anerkennung“ seine „spartanische Lebensweise: Bahro ist Nichtraucher und Nichttrinker, nimmt nur wenig Kaffee zu sich.“ Sein Mitschüler Manfred brachte es schon in der siebten Klasse auf den Punkt: „Goethe ist groß, aber Bahro ist der Größte!“

Guntolf Herzberg und Kurt Seifert haben jetzt – 25 Jahre nach Erscheinen von Bahros Hauptwerk „Die Alternative“ und fünf Jahre nach seinem Tod – auf 650 Seiten das Leben des Rudolf Bahro aufgeschrieben. Womöglich ist das Buch 100 Seiten zu dick geworden, das mag dem Faszinosum Bahro geschuldet sein. Das Autorenduo hat tief gegraben und die DDR-Zeit Bahros präzise aufbereitet. Es ist ein deutsches Geschichtsbuch, das sich im ersten Teil spannend wie ein Kriminalroman liest: Wie konnte Bahro es schaffen, unter den Augen der Stasi seine Abrechnung mit dem Realsozialismus zu schreiben? Bis heute ist das ein Rätsel geblieben.

Die Biografie ist keine Hymne auf Bahro, obwohl die Autoren sein Werk zu den „unverlierbaren Denkmodellen unserer sozialphilosophischen Tradition“ zählen. Sie mögen Bahro, aber sie verklären ihn nicht. Er wird nicht geschont, wo er naiv oder chaotisch ist, wo er den Blick verliert für die Wirklichkeit. Die dunkle Seite des Philosophen und Romantikers, die Selbsttötung seiner Frau Beatrice, sein heilloses Beziehungsdurcheinander und seine Sucht nach Ruhm werden unerbittlich ausgeleuchtet. Die Autoren fühlen sich durchaus jener Wahrhaftigkeit verpflichtet, die Bahro selbst ausstrahlte.

Der erste Teil des Buchs über die Entstehung der „Alternative“, den Prozess und die Knastzeit in Bautzen ist der stärkere Teil. Vielleicht weil dies auch die stärkste Zeit Bahros war. In jedem Fall war es die Lebensphase, über die Westleser wenig wissen. Mit Hilfe der Stasiprotokolle und der Berichte vieler Freunde und Zeitzeugen wird Bahros großes Jahrzehnt vom Prager Frühling und dem inneren Bruch mit dem Realsozialismus bis zum Erscheinen der Alternative 1977 und der Verurteilung als angeblicher Agent en detail rekapituliert. Die Rekonstruktion reicht bis zur Gutenachtmusik: Am Abend vor seiner Festnahme hört er noch einmal Beethovens Streichquartette und legt Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ gut sichtbar auf den Wohnzimmertisch.

Umstellt von Duckmäusern, Verrätern und Parteiapparatschicks, schrieb er in seiner „Gummibude“ im Elast- und Plastekombinat Berlin-Weißensee jenes Buch, das Ernest Mandel „das wichtigste theoretische Werk“ nannte, „das uns seit Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem Ostblock über den Charakter der Übergangsgesellschaft erreicht hat“.

Auch die Zeit des ganz jungen Bahro ist spannend: Er vergießt bittere Tränen über den Tod Stalins, schreibt aus seiner Klassenkampfglückseligkeit heraus grässliche Gedichte über seinen Gott Lenin. Als Student wird er erstmals auffällig und verlangt „Pressefreiheit, ohne zu bedenken, welche Folgen daraus entstehen könnten“ (Stasiprotokoll). 1956 folgt Bahros erste Orientierungskrise nach Chruschtschows Geheimrede zu den Verbrechen Stalins und den Unruhen in Ungarn und Polen. Bahro protestiert gegen die „lückenhaften Informationen“ der SED, er will offen über „alles“ diskutieren und bringt aus Protest an der Uni eine Wandzeitung an, mit der er „die schlechte Komödie unseres Zentralkomitees“ heftig kritisiert – ein mutiges, fast wütendes Signal.

Fast unbekannt ist ein neunseitiger Protestbrief, den Bahro am 3. Dezember 1967 an Ulbricht schrieb. Dieser Brief ist, nicht nur nach Meinung der beiden Biografen, einer der kritischsten Texte, die jemals einen Parteiführer des Sozialismus erreicht haben. In strikter Offizialsprache wettert Bahro völlig ungeschützt gegen die verkrusteten Strukturen der DDR. Er sieht „abnorme Tendenzen der Selbstzufriedenheit und des Nichtengagierens“, er moniert „Lernabneigung, Konservatismus, das feige Zurückweichen selbst vor harmlosen Auseinandersetzungen“. Erstaunlich, dass er nicht schon damals im Knast landete.

Wie hat man sich Bahro damals vorzustellen? Massive Brille, furchtbare Frisur, ein blitzgescheiter Heißsporn, Bücher im Rekordtempo verschlingend und getrieben von der Einsicht, mehr zu wissen als andere. Nach dem Studium wird er Dorfzeitungsredakteur, schreibt agitatorische Traktakte über Traktoristen und Sämänner, wechselt als Redakteur zur Unizeitung Greifswald, dann zur Gewerkschaft Wissenschaft und schließlich als stellvertretender Chefredakteur zum Forum, der interessantesten Zeitung der DDR, wo er „schändliche Lyrik“ (Stasi) veröffentlicht. Die anschließende Abschiebung ins Gummikombinat ist die Strafversetzung eines Mannes, der zu häufig „aber“ sagt.

Was vielleicht am stärksten berührt, ist die unschuldige Besessenheit, mit der er für seine Träume kämpft. Man muss sich das vorstellen, wie Bahro nach dem Zusammenbruch der DDR auf dem großen Parteitag der SED/PDS zu den Genossen spricht, die ihn in den Knast gesteckt hatten, und allen Ernstes von ihnen die schnelle „Entindustrialisierung und Entchemisierung“ der DDR verlangt. Da steht ein ganzes Land vor der Tür des Kapitalismus, träumt von Videorekordern und Urlaub auf Mallorca, und Rudi spricht von „Entbetonieren“ und einer „kleinen Primärproduktion“ in den Dörfern. Bahro hatte noch nie Angst, sich mit seinen Utopien zu blamieren. Er war immer ein Denker, der zugleich die befreiende Tat wollte. Bahro war eine einmalige Kreuzung aus Marx’scher Grundsubstanz und zuweilen etwas schrulligen Lebensreformkonzepten, dazu eine kräftige Prise Romantik und Spiritualität. „Mein Lieblingsteutone“ nannte ihn Johan Galtung. In einem seiner letzten Träume führte er Gespräche mit Dschinghis Khan und Karl dem Großen. Die drei trafen sich am Brandenburger Tor zum Talk über die Versöhnung der Welt. So konnte nur Bahro träumen.

Guntolf Herzberg/Kurt Seifert: „Rudolf Bahro. Glaube an das Veränderbare“, 656 Seiten, Christoph Links Verlag, Berlin 2002, 29,90 €