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Archiv-Artikel

■ Arztpraxen sind Wirtschaftsbetriebe.Das schadet den PatientInnen Körper schinden für hehre Ziele?

betr.: „Vertrauensvolle Kontrolle“ (Freie Arztwahl) von Thomas Zimmermann, taz vom 27. 2. 03

Heutige PatientInnen „sind weniger bereit als frühere Generationen, ein aus dem Gleichgewicht geratenes körperliches Befinden längere Zeit zu tolerieren“. Diesen Vorwurf lasse ich mir gerne machen. Mir wird immer übel, wenn ich höre, wie sich meine Großelterngeneration geschunden hat, zum Beispiel Mütter jahrzehntelang offene Beine hatten, dabei harte Bauernarbeit verrichteten und das als gottgegeben hinnahmen. Ich habe nicht das Bedürfnis, meinen Körper für irgendwelche hehren Ziele zu schinden. Ich will gesund sein. Und wenn ich mich nicht selbst heilen kann, nehme ich jede Hilfe in Anspruch, die ich bekommen kann.

Sicher sind viele Krankheiten stressbedingt. Aber dann müssen wir die Arbeitswelt reparieren. Und wenn ÄrztInnen unfähig sind, weil sie zu stark spezialisiert sind, dann müssen wir die Ausbildung der Gesundheitsberufe verändern. Was hat das mit der freien Arztwahl zu tun? Nichts! ROSEMARIE STEGER, München

Sicher ist an den beschriebenen Effekten etwas dran. Aber ist psychosomatisch bedingtes Leiden kein Leiden? Wieso funktioniert unser Gesundheitssystem so, dass diese Kranken nicht die Hilfe erhalten, die sie bräuchten? Sollen ausgerechnet diesbezüglich kaum geschulte HausärztInnen das schaffen? Und was ist mit den unzählig Kranken, die als PsychosomatikerInnen diagnostiziert wurden und nur durch „Ärzte-Hopping“ als ernsthaft somatisch erkrankt diagnostiziert und therapiert wurden? […]

Bin selbst derzeit ernsthaft erkrankt (sowas wie Muskelschwund). „Ärzte-Hopping“ ermöglicht es mir, autonom das für mich zu tun, was nötig ist, Fehldiagnosen aufzudecken und, wie bereits geschehen, schädliche Therapien zu beenden. Es ist also immer problematisch, wenn man/frau durch eine These PatientInnenverhalten erklärt und die Lücken des Gesundheitssystems, die das nötig machen, ausblendet. Im Übrigen, lieber Kollege, reicht Psychologie leider nicht aus, das marode Gesundheitssystem zu erklären. Tatsache ist, dass einfach die BeitragszahlerInnen fehlen und die, die das Geld haben (und zwar immer mehr!), sich nicht beteiligen. ARMIN STRUNZ, Dipl.-Psychologe und psychologischer Psychotherapeut

Weniger einseitig betrachtet könnte man die Sachlage auch so darstellen: Arztpraxen sind Wirtschaftsbetriebe. Die Behandlung des Patienten muss sich lohnen. Das ist besonders dann der Fall, wenn ein organischer Fehler schnell gefunden und behandelt werden kann. Die lange Suche nach nicht auf der Hand liegenden Befunden machen ÄrztInnen deshalb wohl kaum gerne. Das braucht Zeit, die niedergelassene ÄrztInnen heute nicht mehr haben. Vieles wird eben auch nicht von den Kassen getragen. Es ist bestimmt so, dass in einer Zeit wie der heutigen, psychische und psychosomatische Krankheiten zunehmen. Der richtige Weg bei der Vermutung psychischer Ursachen für bestimmte belastende Symptome wäre es dann doch, diese auch therapeutisch anzugehen. Gleichzeitig sind diese Krankenbilder in unserer Gesellschaft stark stigmatisiert und werden eben nicht als „normale“ Erkrankung wie jede andere auch angesehen. Kein Wunder, dass keiner sie haben will und dass sie andererseits ÄrztInnen besonders gerne als Ausrede für das fehlende Interesse an weiteren Untersuchungen dienen können.

Die Frage ist, ob man die strukturellen Probleme im Gesundheitswesen tatsächlich den PatientInnen anlasten kann, indem man ihnen Unfähigkeit in den eigenen Angelegenheiten unterstellt. […] Den PatientInnen wirft man Ärzte-Hopping vor, statt sich zu fragen, was bei den acht Ärzten vorher schief gelaufen ist. Das passt dann auch gut in die Bestrebungen, Leistungen im Gesundheitswesen zu kürzen, was heute so gern als „Reform“ verkauft wird. […] Verbesserungen setzen allerdings voraus, dass man nicht mutwillig Schuldige für Missstände herausgreift, um zweifelhafte Reformen durchzusetzen, sondern dass man sich tatsächlich für die Ursachen von Missständen interessiert, die eben nicht immer beim schwächsten Glied in der Kette, wie den PatientInnen, zu suchen sind. ANDREA RITZKA-DAHSE, Eppelheim

Der Beitrag ist mir doch etwas sauer aufgestoßen. Dies allerdings weniger inhaltlich, denn ich bin durchaus mit Thomas Zimmermann einer Meinung, dass Ärzte-Hopping für Patienten schädlich ist, vor allem, wenn der zweite Spezialist nicht über Diagnose und Arzneiverordnungen des ersten informiert wird und es so zu Mehrfachmedikation und entsprechend starken und unkontrollierbaren Nebenwirkungen kommt. Gestört hat mich vielmehr die Wortwahl, da er überwiegend von „der Patientin“ spricht. Vermutlich ist dies als Zeichen der Gleichbehandlung gemeint, aber ungewollt zeigt sich hier ein Charakteristikum des medizinischen Denkens in Deutschland: dass bei Frauen grundsätzlich viel eher eine psychosomatische Störung als Ursache ihrer körperlichen Beschwerden angenommen wird als bei Männern, dass daher Frauen viel stärker mit Psychopharmaka (Antidepressiva etc.) „therapiert“ werden, oftmals nicht nur zu ihrem gesundheitlichen und seelischen Wohl. Ungewollt demonstriert Zimmermann hier also die falschen Denkstrukturen in der deutschen Medizinerschaft. Ich vermute indes nicht, dass Ärzte-Hopping nur bei organisch unerklärten körperlichen Beschwerden betrieben wird. Bisweilen kann es nämlich auch sehr bequem sein, von einer psychosomatischen Störung auszugehen und ein entsprechendes Medikament zu verschreiben. Gerade bei weiblichen Patienten gehen Mediziner schnell von einer psychischen Erkrankung aus, wenn sie nicht sofort eine körperliche Ursache ausmachen können, erwiesenermaßen viel mehr als bei männlichen Patienten. Meiner Meinung nach werden in Deutschland viel zu viele Frauen unnötigerweise mit starken Psychopharmaka behandelt und auf Dauer geschädigt. BARBARA KOLLER, Aachen

Die Redaktion behält sich den Abdruck sowie das Kürzen von Briefen vor. Die erscheinenden LeserInnenbriefe geben nicht notwendigerweise die Meinung der taz wieder.