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Algerier begrüßen Chirac jubelnd

Zum ersten Mal seit über vierzig Jahren besucht ein französischer Präsident die ehemaligen nordafrikanischen Provinzen. Doch unter die Begeisterung mischt sich auch Kritik. Die beiden Staatschefs wollen ein Freundschaftsabkommen unterzeichnen

von REINER WANDLER

Noch nie wurde ein Staatsgast in Algerien so bejubelt. Eine Million Menschen säumten am Sonntagnachmittag die Straßen Algiers, um den französischen Präsidenten Jacques Chirac zu empfangen. Zusammen mit seinem Gastgeber, dem algerischen Staatschef Abdelasis Bouteflika, grüßte er aus der offenen Luxuslimousine die Menge. „Ein historischer Besuch“, bilanzierte tags darauf die Presse auf beiden Seiten des Mittelmeeres. Chirac ist der erste französische Präsident, der die ehemaligen Provinzen besucht, seit diese 1962 unabhängig wurden.

Die Fassaden im Stadtzentrum waren am Freitag eigens für den hohen Besuch frisch gestrichen worden. Die gesamte 15 Kilometer lange Strecke vom Flughafen in die Innenstadt wurde mit Fahnen der beiden Länder geschmückt. Die meisten Schaulustigen drängten sich an der Uferpromenade, an der das algerische Nationalparlament liegt. Eine solche triumphale Fahrt entlang der Bucht war vor Chirac nur zwei Besuchern zuteil geworden: dem kubanischen Revolutionshelden Ernesto Che Guevara und dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser. Nur den Jugendlichen und jungen Erwachsenen war nicht nur zum Jubeln zumute. „Chirac Veto“ riefen sie, angesichts der bevorstehenden Abstimmung im UN-Sicherheitsrat über den Irak. Und immer wieder machten sie ihrem Unmut über die fehlende Reisefreiheit ins einstige Mutterland Luft: „Visa, Visa!“, tönte es dem hohen Besuch entgegen. Frankreich hat in den vergangenen zehn Jahren, in denen Algerien unter dem blutigen Kampf zwischen radikalen Islamisten und der Armee leidet, das Kontingent für Visa immer mehr zusammengestrichen.

Im ärmsten Innenstadtbezirk, dem Stadtteil Bab el-Oued, nutzen die Jugendlichen den Staatsbesuch ebenfalls für Proteste. „Die Autoritäten haben versagt“, riefen sie immer wieder. Und meinten damit die Untätigkeit der Regierung bei der Überschwemmung im November 2001, bei der über 700 Menschen ums Leben kamen. Chirac legte zu ihren Ehren einen Kranz nieder und erhielt dafür Applaus. Bouteflika war bei seinen wenigen Besuchen in der einstigen Hochburg der radikalen Islamisten beschimpft worden.

Den Höhepunkt des Staatsbesuches bildete gestern eine Rede Chiracs vor den Abgeordneten der beiden algerischen Parlamentskammern. „Der Moment für eine neue franco-algerische Allianz ist gekommen“, versprach er unter Beifall. Auf dem Programm Chiracs, der mit mehreren Ministern angereist ist, stehen außerdem Treffen mit Regierungsvertretern sowie dem Oberbefehlshaber der Nationalen Befreiungsarmee, General Mohamed Larbi.

Beide Länder wollen während des dreitägigen Aufenthaltes Chiracs in Algerien einen Freundschaftsvertrag unterschreiben. Dies ist sicher kein leichtes Unterfangen: Die offenen Wunden auf beiden Seiten verheilen nur langsam. Je nach Angaben verloren im acht Jahre dauernden algerischen Befreiungskrieg zwischen 500.000 und einer Million Menschen ihr Leben. 80 Prozent davon gehörten der muslimischen Bevölkerung an. Die französische Armee folterte und mordete, um die Unabhängigkeit der Provinzen in Nordafrika zu verhindern.

Als die Nationale Befreiungsfront FLN den Krieg gewann und damit 132 Jahren Kolonialherrschaft ein Ende setzte, flohen vier bis fünf Millionen Menschen nach Frankreich. Neben den europäischen Algeriern verließen auch viele Muslime das Land, die in der Kolonialarmee gedient hatten. Über 100.000 von ihnen gelang die Flucht nicht. Sie wurden nach der Unabhängigkeit massakriert.

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