: Berge, Wüste, Strand
In der spanischen Sierra Nevada kann man Ski fahren, aber man kann auch hervorragend durch die Alpujarras wandern, die verschneiten Gipfel hinter sich. Ein Fernwanderweg durch Andalusien
von REINER WANDLER
Endlich Rucksack ab und Wanderschuhe aus. Die Füße erholen sich bei jedem Schritt durch den feuchten Sand. Der weiße Schaum der an den Strand schwappenden Wellen umspült die Zehen. Weit hinten am Horizont die weißen Berge der Sierra Nevada. Auf der anderen Seite des höchsten Gebirges der Iberischen Halbinsel begann vor sieben Tagen das, was heute mit einem Bad im auch Anfang Januar angenehmen Wasser des Mittelmeers seinem Ende entgegengeht: der Fernwanderweg GR 140. Noch acht Kilometer trennen uns vom Cabo de Gata, der unter Naturschutz stehenden Felsenküste unweit der andalusischen Provinzhauptstadt Almería.
Anfang Dezember waren wir uns mit unserer Tochter schnell einig: Dieses Jahr wollten wir Weihnachten und Jahreswechsel fern vom üblichen Rummel verbringen. Nur das Wie und Wo waren nicht klar, bis im Briefkasten die neueste Ausgabe der Zeitschrift lag, die der Madrider Alpenverein an seine Mitglieder verschickt. Auf dem Titelblatt „Die neuen Fernwanderwege“. Einer davon führt durch den Süden und verspricht stabiles Wetter auch im Dezember und Januar.
Am ersten Weihnachtsfeiertag steigen wir in Fiñana, einem kleinen Ort auf der Nordseite der Sierra Nevada, aus dem Zug. Die acht Kilometer, die uns vom ersten Quartier trennen, legen wir in Rekordzeit zurück. Das Abendessen kommt aus dem Rucksack. Dazu gibt es ein paar Schluck neuen Wein, den uns die Hausherren geschenkt haben. Und ab geht es ins Bett.
Ein schmaler Weg, der sicher noch vor der Vertreibung der Araber 1492 angelegt wurde, führt uns am nächsten Tag durch Olivenhaine. Erstmals hörten wir das Geräusch, das uns die gesamte Wanderung über begleiten sollte. Lange Stangen fahren zwischen die Äste. Zum Winteranfang werden die Oliven von den Bäumen geschlagen, um sie dann von den am Boden ausgebreiteten Tüchern aufzusammeln. In zahlreichen Kurven geht es hinauf auf den knapp 1.700 Meter hohen Pass zwischen verschneiten Bergen.
Vor uns öffnen sich die Alpujarras, das tiefe Tal zwischen dem Küstengebirge und der Sierra Nevada. Schritt für Schritt tauchen wir ein in eine andere Welt. Es riecht nach wildem Rosmarin, Thymian und Minze. Wie übereinander geschichtete Würfel kleben die Häuser der kleinen Dörfer an den verbrannten Hängen des Gebirges. Über tausend Jahre alte Kanäle bringen das Wasser hinab auf die dem Berg mühsam abgetrotzten Terrassen, auf denen Olivenbäume, Reben und Orangen wachsen. Ragten keine Kirchtürme aus dem Gassengewirr, man könnte glauben, in Nordafrika zu sein. Von dort kamen die Berberstämme, die einst die Alpujarras besiedelten.
Richtung Südosten öffnet sich die Weite Almerías. Wie ein gelbgrünes faltiges Tuch erstreckt sich die Wüste von Tabernas. Der Fluss Andarax zeigt den Weg zwischen Orangenhainen hinein in diesen europäischen Ausläufer der Sahara. Ausgetrocknete Seitenflüsse dienen als Weg vorbei an bizarren Felsformationen, die in den Siebzigerjahren den Italo-Western als Kulisse dienten. Auch heute noch machen die Konvois der großen Filmgesellschaften hier gerne Halt. Wenn „Laurence von Arabien“ und „Indianer Jones“ durch Oasen streifen, dann tun sie es garantiert am Rand des GR 140.
Als wir diese Palmeninseln erreichen, war uns nicht wie Filmhelden zumute. Lange Stunden auf asphaltierten Wegen und durch ausgetrocknete Flussbetten hatten ihre Spuren hinterlassen. Zwei Stunden später, in der Pension in Tabernas, kommen dann nach einer Etappe von 32 Kilometern erste Zweifel auf. 38 Kilometer und insgesamt 1.200 Meter Höhenunterschied kündigt die Wegbeschreibung unerbittlich an. Ein deutsches Weizenbier für die Erwachsenen, Traubensaft für die Dritte im Bunde heben die Stimmung. Und – oh Wunder! – als wir morgens um sieben mit der Stirnlampe dem Sonnenaufgang entgegenstapfen, sind die Schmerzen weg.
Langsam, aber stetig geht es hinauf auf den Höhenkamm der Sierra de Alhamilla, die die Wüste und die Bucht von Almería trennt. Im Westen, dort, wo die Alpujarras beginnen, die wir vor zwei Tagen verlassen haben, hängen tiefschwarze Wolken. Hoffentlich bleiben wir verschont, geht es uns durch den Kopf. Bis uns klar wird, dass wir auf der anderen Seite der Wüste wie durch eine magische Hand geschützt sind. Die Schlechtwetterfront endet wie mit dem Lineal gezogen dort, wo die ausgetrocknete Landschaft beginnt.
Oben angekommen, sehen wir erstmals das Ziel unserer Reise, die Felsen des Cabo de Gata. „21 km Tabernas, 16,5 km Níjar“, erinnert uns ein Wegweiser daran, was an diesem Tag hinter uns und vor allem daran, was bis zum Abend noch vor uns liegt. Bei Einbruch der Dunkelheit erreichen wir die Pension. Es wartet nur noch eine Etappe auf uns.
Der letzte Tag wird zum Anschauungsunterricht für das, was die Provinz Almería ist: die Fabrik, die Europas Tische deckt. Stundenlang geht es durch das „Plastikmeer“. Folienzelte so groß wie ein Fußballfeld ziehen sich bis zum Horizont. Tomaten, Gurken, Salat, alles, was im kühlen Norden im Winter nicht wächst, wird hier angebaut. Zehntausende von Immigranten, die meisten ohne Papiere, arbeiten hier. Doch in den Dörfern will sie keiner haben. Sie leben in Baracken gleich neben ihrem Arbeitsplatz. Eines der Dörfer, wo aus Plastik Geld wird, El Ejido, gelangte vor zwei Jahren wegen dieser spanischen Variante der Apartheid weltweit in die Schlagzeilen. Nach dem Mord an einer jungen Spanierin durch einen psychisch kranken Marokkaner machten die Bewohner mit Knüppeln, Brandsätzen und Flinten Jagd auf die, die den Reichtum der Region mit ihren Händen erwirtschaften.
Am Ende des Plastikmeers beginnt schließlich der Naturpark Cabo de Gata. In Lagunen staksen die letzten wilden Flamingos Spaniens. Vogelschwärme streifen umher. Vor uns liegt einer der wenigen Küstenabschnitte am spanischen Mittelmeer, an dem die Strände nicht von riesigen Bettenburgen überschattet werden. Kleine weiße Fischerdörfer laden zum Bleiben ein. Wanderwege durchziehen die Hügel und Berge. Riesige poröse Felsplatten zeugen von den Lavaströmen, die hier einst dem Meer Platz abgerungen haben. Mit jedem Schritt, den wir uns dem Strand nähern, werden wir schneller. Die Müdigkeit ist wie weggeblasen. Endlich das Meer. Rucksack ab und Wanderschuhe aus. Wir schlendern am Strand entlang und genießen den weißen Schaum der Wellen, der die Zehen umspült. Das beflügelt Körper und Gedanken: „Was machen wir an Ostern?“ Den GR 11 durch die Pyrenäen, den GR 14 am Oberlauf des Duero, den GR 221 durch die Tramuntana auf Mallorca … Es gibt so viel zu erlaufen.