: Mehr Kinder für weniger Kriege
Die Zahl der Kindersoldaten hat im letzten Jahr zugenommen. Vor allem in Ländern wie Kongo und Liberia, in denen Friedensprozesse eingeleitet sind
VON DOMINIC JOHNSON
Als Alexandres Militärkarriere begann, war er elf Jahre alt. Kämpfer des Lendu-Volkes in Bunia in der Demokratischen Republik Kongo hatten seine Schwester umgebracht, also schloss er sich der „Union kongolesischer Patrioten“ (UPC) an, der führenden Miliz seines eigenen Hema-Volkes, die in Bunia gegen Lendu-Milizen kämpfte. Das war im vergangenen April. In der Ausbildung waren unter den Soldaten mehr Kinder als Erwachsene, erzählte er später. Er tötete viele Lendu und wurde Leibwächter des UPC-Chefs Thomas Lubanga.
Die Demokratische Republik Kongo ist eines von drei Ländern, in denen der Einsatz von Kindersoldaten im Laufe des Jahres 2003 massiv zugenommen hat. Die anderen sind Liberia und die Elfenbeinküste, berichtet die internationale „Coalition to Stop the Use of Child Soldiers“, eine Allianz von Nichtregierungsorganisationen unter Federführung der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, in ihrem gestern veröffentlichten Bericht über die Lage der Kindersoldaten in der Welt 2003. Das Paradox: In allen drei Ländern laufen Friedensprozesse. Die Kriegsparteien des Kongo schlossen im Dezember 2002 einen Friedensvertrag, die der Elfenbeinküste im Januar und die Liberias im August 2003.
Dass sich die Lage trotzdem nicht gebessert hat, liegt vor allem daran, dass der Frieden in allen drei Ländern noch nicht überall gegriffen hat und alle Kriegsparteien ihre Armeen zusammenhalten. Während des Kongokrieges 1998–2003 waren schätzungsweise 35 Prozent aller Kämpfer Minderjährige. In Liberia waren es 1999–2003 sogar 80 Prozent. Mitglieder der einstigen „Small Boys Unit“ des 2003 zurückgetretenen liberianischen Präsidenten Charles Taylor schlossen sich letztes Jahr Rebellengruppen der Elfenbeinküste an. Demobilisierungsprogramme haben in Liberia und Kongo gerade erst begonnen, in der Elfenbeinküste noch gar nicht.
Es gibt aber noch weitere Gründe, die in der Dynamik von Friedensprozessen liegen. Gerade in Erwartung einer Demobilisierung rekrutieren Warlords gern neue Kämpfer – entweder um die fälligen Demobilisierungsprämien zu kassieren oder als Reservearmee. Manchmal lassen sich Kinder auch demobilisieren und heuern gleich wieder an, weil sie damit doppelt kassieren und weil ihre alte Miliz nach wie vor ihre Heimat kontrolliert. Kinder, die Kriegsverbrechen begangen haben, fürchten zudem oft den Frieden mehr als den Krieg – aus Angst vor Rache.
Auch in anderen Teilen der Welt zieht die „Coalition“ eine düstere Bilanz des Jahres 2003. 70.000 Kinder dienten in der Regierungsarmee von Birma, heißt es; bewaffnete Gruppen in Kolumbien und Tamilen-Rebellen in Sri Lanka rekrutieren kräftig. Verlässliche Zahlen über die Gesamtzahl von Kindersoldaten auf der Welt gibt es nicht; es dürften jedoch hunderttausende sein.
Der Bericht dient als Vorlage für den UN-Sicherheitsrat, der am kommenden Dienstag über die Lage von Kindern in bewaffneten Konflikten diskutieren wird. Im November 2001 hatte der Sicherheitsrat UN-Generalsekretär Kofi Annan gebeten, eine Liste von Kriegsparteien zu erstellen, die Kinder rekrutieren, damit gegen sie eventuell Sanktionen verhängt werden könnten. Eine Entscheidung darüber wurde im Januar 2003 um ein Jahr vertagt. Inzwischen hat Annan eine aktualisierte Liste vorgelegt und harte Maßnahmen gefordert: Waffenembargo, Reisesanktionen, Kontensperrung und Ausschluss von Kinderrekrutierern aus allen Friedensprozessen oder Regierungsstrukturen. Auf der Liste stehen die Regierungsstreitkräfte von Birma, Burundi, Elfenbeinküste, Kongo, Liberia und Uganda sowie bewaffnete Gruppen aus diesen Ländern und neun weiteren: Afghanistan, Kolumbien, Nepal, Nordirland, Philippinen, Somalia, Sri Lanka, Sudan und Tschetschenien.
Sanktionen sind aber unwahrscheinlich. Dann müsste nämlich der Sicherheitsrat die UN-überwachten Friedensprozesse in Kongo, Liberia und Elfenbeinküste sofort stoppen und sämtliche Machthaber aller Fraktionen in diesen Ländern aus der Macht in ihren Staaten ausschließen. Ein schöner Kindertraum.