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Archiv-Artikel

Die Masken seiner Majestät

KAISER WILHELM II.

Name: Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preußen Geboren: 27. Januar 1859 in Berlin Eltern: Kaiser Friedrich III. und Victoria von Großbritannien und Irland Geschlecht: Hohenzoller Amtsantritt: 18. Juni 1888, im Dreikaiserjahr. Nach dem Tode Wilhelms I. am 9. März 1888 regierte sein Sohn Friedrich III., der bereits an Kehlkopfkrebs erkrankt war, ganze 99 Tage. Sein ältester Sohn folgt ihm 29-jährig auf den Thron. Die Belle Époque: umfasst die Stile vom Impressionismus über den Jugendstil zum Kubismus und vom Historismus zu Neuer Sachlichkeit, blieb aber ein Subsystem der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung. Hobbys: Segeln, Reisen, Automobilfahren, Malen (bevorzugt Marinemanöver und historische Szenarien) Prominente unter ihm errichtete Bauwerke: Kaiser-Friedrich-Museum, heute Bode-Museum, Berliner Dom, Reichstagsgebäude, Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Protektor: des Kaiserlichen Automobilclubs und der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die noch heute als Max-Planck-Gesellschaft besteht Geschmack: die reine Formensprache der alten Griechen und ihrer würdigen Nacheiferer wie Reinhold Begas Zitat: „Kunst, die sich über die von mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr, sie ist Fabrikarbeit (…) Wenn nun die Kunst (…) nichts thut, als das Elend noch scheußlicher hinzustellen, wie es schon ist, dann versündigt sie sich damit am deutschen Volke.“ Förderer: von Realschulen mit technischer Ausrichtung. Geisteswissenschaften und Philosophie fand er unwichtig für die kolonialen Entdecker. Tod: 4. Juni 1941 im Exil in Doorn, Niederlande. MNG

Kaiser Wilhelm II. steht wie kein anderer für den pompösen Militarismus der Belle Époque. Und für dessen heimlichen Charme

VON MARLENE GIESE

Wissenschaft und Feuilletons beschäftigen sich wieder mit Wilhelm II. Und das nicht nur, weil sich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs die Abdankung des Kaisers im November zum neunzigsten Mal jährt. Auch nicht, weil der Uniformen liebende Preuße im Januar seinen 150. Geburtstag feiern würde. Vielmehr scheint nach der dominierenden Aufarbeitung der Gräueltaten des Dritten Reiches das Interesse an der Wilhelminischen Ära zu wachsen. Sowie für den Mann, der ihr ihren Namen gab – mit all seinen Vorlieben und Schwächen. Allein in diesem Jahr kamen über zehn Neuerscheinungen über den zweiten Wilhelm und sein Umfeld auf den Markt. Und es ist nicht nur das Fachpublikum, das sich dafür interessiert.

Die Person Wilhelms II. ist stark umstritten und von Widersprüchlichkeiten geprägt. Er wird als sprunghaft und oberflächlich charakterisiert – zwei Eigenschaften, die nicht in Einklang mit seinem Selbstbild standen. Lieber wäre er der dominante Monarch gewesen, dessen Wort allen Befehl ist. Eine daraus entstehende Unsicherheit überspielte er durch forsches, impulsives Auftreten, das zumeist als Säbelrasseln wahrgenommen wurde. Sein Regierungsstil war geprägt von spontanen Entscheidungen, basierend auf Ratschlägen von Freunden und Beratern. So war die tatsächliche Herrschaftsweise weit entfernt vom politischen Wunsch-Dasein Wilhelms II. und führte zu einer Politik, die keine klare Linie kannte.

Die Geschichtsschreibung entwirft sehr unterschiedliche Bilder des letzten Hohenzollern. Der deutsch-britische Historiker C. G. Röhl vollendet mit dem dritten seitenstarken Band seine Kaiser Wilhelm-II.-Trilogie. Er versucht, das gängige Bild der Marionettenfigur zu widerlegen und beschreibt den letzten Hohenzoller als die zentrale Figur in der deutschen Reichsführung, die den Kriegsausbruch 1914 forcierte. Christopher Clark antwortete mit einem etwas übersichtlicheren Werk, das ihn zwar als vehementen Vertreter des Imperialismus, aber weniger als selbstständigen Akteur und Provokateur des Ersten Weltkriegs interpretiert.

Einig ist man sich in einem wesentlichen Charakterzug: seiner eitlen Uniformenliebe. Mit Wilhelm II. assoziiert man stramme Burschen im Gleichschritt und mit Pickelhauben auf dem Kopf. Der Kaiser hoch zu Ross, aufwendig gefertigte Schulterklappen, die Stiefel bis übers Knie. Besonders das Berlin der Kaiserzeit schwelgte in patriotischen Feiern und Paraden. Ein bisschen von der erotischen Aufladung des strammen Offiziers wollte jeder abhaben. Immerhin marschiert der Soldat zum Schutz der Frauen und Kinder. Das angelegte Gewehr als Ausdruck von Männlichkeit?

Wilhelm II. liebte das tägliche Verkleidungsspiel, hinter dem er sich und seine sensible Seite so schön verstecken konnte. Die Hofdame Baronin Spitzemberg mokierte sich über das „Ewige-in-Position-Stehen“ und Fürst Eulenburg, der schwule Freund des Kaisers, stöhnte über den nicht enden wollenden Maskenball.

Die fast kindliche Freude an Uniformen, die der Kaiser bis zu sechs Mal täglich wechselte, interpretierten viele als Kompensation seines mangelnden Selbstwertgefühls. Das Leben mit einem verkrüppelten linken Arm, den die schwierige Steißgeburt ihm zufügte, war unter seiner strengen englischen Mutter Victoria sicher nicht einfach.

Nach seiner Krönung trat der junge König von Preußen an, das Leben der Arbeiter zu verbessern und Deutschland in „herrliche Zeiten“ zu führen. Die Sozialpolitik lag ihm durchaus am Herzen, aber Demokratisierung oder gar eine Aufhebung des Dreiklassenwahlrechts unterband er. Am Ende der dreißig Jahre, die er mit wechselnden Reichskanzlern an der Macht war, fand sich Preußen im Ersten Weltkrieg, der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ wieder. Wilhelm II. hatte die Entscheidungsgewalt spätestens ab 1916 an die Oberste Heeresleitung abgegeben und wurde von Depressionen und Krankheit ans Bett gefesselt. Am 9. November 1918 gab der damalige Reichskanzler Prinz Max von Baden eigenmächtig und ohne dessen Einwilligung seine Abdankung bekannt.

Trotzdem ist und bleibt der letzte deutsche Kaiser, der daraufhin in den Niederlanden Asyl suchte, die Symbolfigur einer ganzen Epoche, der Belle Époque. Und diese stand zweifellos ganz im Bann der Uniform. Zwar folgte eine moderne Errungenschaft der anderen. Für humanistische Überzeugungen und ungegenständliche Kunst interessierten sich aber zunächst nur wenige.

Die große Masse der Bauern, Land- und Industriearbeiter, die nach langen Arbeitstagen in die lichtlosen Hinterhofquartiere der schnell wachsenden Städte zurückkehrten, erlebten die Jahrhundertwende sicher nicht als die sogenannte „Schöne Zeit“ der Salons und Boulevards, der Cafés und Cabarets. Sie hielten es mit ihrem Kaiser, der als nationaler Kunsterzieher in Personalunion die Hacken zusammenschlug und gegen die „Rinnsteinkunst“ wetterte. Ein Foto seines Konterfeis hing in jeder guten Stube neben dem eigenen Hochzeitsbild. Militärische Aufmärsche vor dem Berliner Dom, wo zweihundert Jahre zuvor der königliche Kräutergarten angelegt worden war, gehörten zum staatlichen Prozedere. Und dienten der Unterhaltung. Allein die federnen Paradebüsche auf den Helmen der Generäle standen dem Kopfschmuck eines indianischen Chiefs in nichts nach. Der Kaiser selbst balancierte eine Reichsadler-Skulptur auf dem Helm, die seinen Gleichgewichtssinn herausforderte. Eitelkeit und Prestigesucht legte er auch im Privatleben nicht ab.

Die Vorliebe Wilhelms II. für militärischen Prunk wirkte sich auf die konstitutionelle Monarchie aber auch ganz real aus. Die Hierarchie der wilhelminischen Gesellschaft basierte auf militärischen Rängen. An eine Karriere ohne Abzeichen war nicht zu denken. Das Kaiserreich erfuhr eine militärische Aufrüstung, der Aufbau der Flotte wurde forciert. Auch um Wilhelms II. imperialistisches Streben, das „Mehren der Nation“, voranzutreiben und ihm endlich Anerkennung zu bringen. Er war fasziniert von den Forschungsreisen des Ethnologen Leo Frobenius, die er als Mäzen großzügig unterstützte. Er sah Preußen im Konkurrenzkampf der Nationen und wollte seinem Land den berühmten Platz an der Sonne sichern. Im Prozess nationaler Identitätsbestimmung zeigte vor allem das gehobene Bürgertum eine besondere Affinität zum kolonialen Projekt. Auch einfache Leute konnten sich jetzt schick als Übermenschen und Vertreter des Herrenvolks inszenieren. In den ehemaligen Kolonien leben die genozidalen Niederschlagungen der Sklavenaufstände bis heute als nationale Traumata fort. Allein in Deutsch-Südwest, dem heutigen Namibia, sind weite Teile der Herero und der Nama dem Krieg zum Opfer gefallen. Die Schätzungen reichen von fünfunddreißig bis achtzig Prozent der Bevölkerung. In Deutsch-Ostafrika metzelte die „Schutztruppe“ im Maji-Maji-Krieg bis zu einer Viertelmillion Menschen nieder oder ließ sie durch eine Politik der verbrannten Erde verhungern. Für sie verkörperte des Kaisers Uniformenliebe die blanke Macht über das eigene Leben.

Wilhelms II. karnevaleske Inszenierung der Uniform mag der Avantgarde in Preußen wie ein überflüssiges Spektakel vorgekommen sein. Doch das Selbstverständnis des deutschen Untertanen der Jahrhundertwende basierte ja auf siegreichem Krieg. Der Sedantag, der den Sieg über Frankreich 1871 zelebrierte, war jahrelang Nationalfeiertag. Militarismus war ein integraler Bestandteil.

Erst die Frevel des Zweiten Weltkriegs haben die öffentliche Wahrnehmung grundlegend verändert. Bilder der uniformierten Hitler-Jugend jagen einem heute Schauer über den Rücken. Aufgrund fortgeschrittener Geschichtsaufarbeitung und dem Generationenwechsel verschwand inzwischen das Gefühl einer Kollektivschuld. Die Lust an der Verkleidung und dem erfolgreichen Massenspektakel fasziniert wieder. Und macht Kaiser Wilhelm II. und die „Schöne Zeit“ der Jahrhundertwende wieder attraktiv.

MARLENE GIESE, Jahrgang 1982, ist taz.mag-Hospitantin und Kunsthistorikerin