: Kein Vergleich
Die These, der Antisemitismus sei durch einen neuen Antiislamismus abgelöst worden, ist nicht belegbar und verantwortungslos. Sie verschleiert die wahren Gefährdungslagen
Ich habe den Eindruck, dass es in der Gesellschaft einen ganz massiven Antiislamismus gibt, der den Antisemitismus abgelöst hat. (taz, 6. 11. 03) Vor wenigen Wochen überraschte der Ethnologe Werner Schiffauer mit dieser These. Es ist ein brisanter Vergleich, der Assoziationen weckt und weitere Fragen aufwirft: Gibt es tatsächlich einen militanten, gewalttätigen Muslimenhass? Oder Theorien, die eine muslimische Weltverschwörung konstruieren? Und auf welche Elemente des Antisemitismus beziehen sich die Verfechter der These, die seit Jahren immer wieder einmal in die Debatte eingebracht wird?
In Deutschland artikulierte sich der Judenhass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts unter anderem in Parteien, Vereinen und Verbänden mit antisemitischer Programmatik und einer zahlenmäßig großen Gefolgschaft quer durch alle gesellschaftlichen Schichten. Begleitet wurde der geordnete und der Alltagsantisemitismus von Mord, Pogromen und gewaltsamer Einschüchterung von Juden. Zwischen 1933 und 1945 mündete er in die Aberkennung ihrer bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und schließlich in ihre physische Vernichtung.
Nach der Gründung der Bundesrepublik war der organisierte Antisemitismus auf rechtsextreme Gruppen beschränkt. Virulent blieb allerdings der Alltagsantisemitismus. Niedergeschlagen hat sich das bis heute in hunderten von Friedhofsschändungen, Brandanschlägen auf die wenigen verbliebenen Synagogen, Angriffen auf Juden, Schmierereien und einer Flut von Hetzartikeln und -reden nicht nur im Milieu der äußersten Rechten. Bis heute stehen jüdische Einrichtungen und Repräsentanten deshalb aus gutem Grund unter permanentem Polizeischutz.
Eine vergleichbare Gefährdung muslimischen Lebens in Deutschland gibt es glücklicherweise bis heute nicht. Die über 2.000 Moscheen und muslimischen Gebetsräume brauchen nur in Ausnahmefällen Polizeischutz. Abgesehen von rechtsradikalen Kleinstgruppen gibt es keine Parteien oder Verbände mit einer antiislamischen Programmatik, keine Terrorangriffe auf Muslime. Und Übergriffe auf Moscheen lassen sich bislang noch an einer Hand abzählen.
Die zahlreichen rassistischen Gewalttaten der letzten fünfzehn Jahre galten, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen Muslimen und deren Organisationen als solche. Sie trafen rumänische Asylsuchende, katholische Mosambikaner, schwarze Briten, Angehörige konkurrierender jugendlicher Subkulturen, soziale Randgruppen und buddhistische Vietnamesen ebenso wie muslimische Türken oder christliche Araber.
Wenn der Zentralrat der Muslime, die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs und Werner Schiffauer dennoch behaupten, die Gewalttaten mit antiislamischem Hintergrund hätten zugenommen und die antisemitischen gar ersetzt, wäre es höchste Zeit, die Belege vorzulegen, um wirksame Strategien gegen die neue Herausforderung zu entwickeln. Solange diese fehlen, kann von einer Ablösung des Antisemitismus durch einen „Antiislamismus“, besser einer Islamfeindlichkeit, keine Rede sein. Es seit denn, man betrachtet, wie Schiffauer, bereits das repressive Vorgehen des Staats gegen Organisationen wie Hisb ut-Tahrir oder dem Kalifatsstaat, die zum Judenhass und -mord aufriefen, als Islamfeindlichkeit.
Die These, Antiislamismus ersetze Antisemitismus, geht in der Regel mit der Bereitschaft einher, Handlungen und Äußerungen von Muslimen – und seien sie auch noch so verwerflich – mit einer großen Duldsamkeit und Toleranz zur Kenntnis zu nehmen. Wie das funktioniert, lässt sich unter anderem in einem Interview mit Navid Kermani zum „Islamischen Antijudaismus“ nachlesen (taz, 26. 11. 03). Auf die Frage „Der malayische Premier Mahathir hat kürzlich beim Kongress islamischer Staaten eine israelfeindliche Rede gehalten. Ist dies ein Beispiel für antisemitische Tendenzen?“, antwortet Kermani: „Den Eindruck kann man haben, wenn man die einzelnen Zitate sieht. Aber der Kontext der Rede ist anders: Mahathir, der kein Islamist ist, beklagt in der Rede schonungslos die Unterlegenheit und Rückständigkeit muslimischer Staaten.“ Was bedeutet dieses Aber?
Mahathir ist vielleicht kein Islamist, aber er ist mit Sicherheit ein Antisemit. Entsprechende Belege liefert seine Rede hinreichend. Darin heißt es: „Die Europäer haben 6 von 12 Millionen Juden getötet. Aber heute beherrschen die Juden diese Welt mittels ihrer Stellvertreter. Sie lassen andere für sich kämpfen und sterben.“ Oder: „Sie [die Juden] erfanden und fördern mit Erfolg Sozialismus, Kommunismus, Menschenrechte und Demokratie, damit es falsch erschiene, sie zu verfolgen, damit sie sich der gleichen Rechte erfreuen dürfen wie andere. Mit denen haben sie nun die Kontrolle über die mächtigsten Länder gewonnen, und sie, diese winzige Gemeinschaft, sind eine Weltmacht geworden.“
Die Ausführungen Mahathirs, die eine jüdische Weltverschwörung konstruieren, lassen kein relativierendes Aber zu. Es ist in diesem Kontext irrelevant, wenn Mahathir ausführt, dass die muslimische Umma „mit Verachtung und Entehrung“ behandelt wird. Im Kern bleibt der Antisemitismus, der nicht auf den radikalen Islamismus beschränkt ist.
Selbst hohe sunnitische Würdenträger vertreten in Bezug auf den Palästinakonflikt seit Jahren Positionen, die mit Antisemitismen durchsetzt sind. Bekannt ist vor allem Scheich Mohammed Sayyid Tantawi, immerhin die höchste muslimische Autorität der Al-Azhar-Universität in Kairo. Tantawi veröffentlichte bereits 1998 seine Schrift „Die Söhne Israels in Koran und Sunna“. In dieser Hetzschrift erscheinen die Juden als ewige Feinde des Islam. Zur Begründung werden neben eigentümlichen Koraninterpretationen auch die „Protokolle der Weisen von Zion angeführt“, die Tantawi als authentische jüdische Quelle anführt. Tatsächlich handelt es sich um eine Fälschung des zaristischen Geheimdienstes, auf das bis heute Neonazis und auch Islamisten seit Jahrzehnten rekurrieren.
Antisemitische Deutungsmuster haben sich seit Beginn der zweiten Intifada unter Muslimen epidemisch verbreitet. Wer Zweifel hegt, dem sei die im Jahr 2002 erschienene Studie „Muslim Antisemitism – A Clear and Present Danger“ von Robert Wistrich, dem Autor des Standardwerkes „Der antisemitische Wahn“, empfohlen. Auch in Westeuropa hat der Antisemitismus unter den Muslimen erheblich an Boden gewonnen, wie die in der kürzlich veröffentlichten Studie der Europäischen Beobachtungsstelle für Rassismus (EUMC) aufgelisteten Übergriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen belegen. Von vergleichbaren Angriffen europäischer Juden auf Muslime ist bislang noch nichts zu hören gewesen.
Angesichts dieser Entwicklungen ist die These, der Antiislamismus habe den Antisemitismus ersetzt, verantwortungslos, da sie reale Gefährdungslagen verschleiert. Deutschland braucht keinen ideologisierten Wettbewerb von Minderheitengruppen, sondern nüchterne Analysen zum deutschen und islamisierten Antisemitismus sowie zum Ausmaß und Gefährdungspotenzial der Islamfeindlichkeit. MICHAEL KIEFER
EBERHARD SEIDEL