: So heucheln Sie sich durch eine Reform
von JENS KÖNIG und ULRIKE WINKELMANN
1. Sie sind Gesundheitsministerin. Drohen Sie und stellen Ultimaten! Zwei Wochen nach Beginn der Gesundheitsreform ist immer noch nicht klar, wer als chronisch Kranker, als Sozialhilfeempfänger oder sonst wie Benachteiligter von Zuzahlungen und Praxisgebühren befreit wird. Zwar wussten Sie seit Monaten, dass gerade die Schwächsten von der Reform am stärksten gebeutelt werden würden. Macht nichts: Laden Sie den Spiegel ein und ballern Sie gegen Ärzte und Kassen los. Die sollen schuld sein! Und wenn deren Organisationen nicht spuren, werden sie eben aufgelöst! Je aufgeblasener die Drohung, desto weniger Leuten wird auffallen, dass Ihr Haus sämtliche sozialen Härten der Reform mit ausgefeilt hat.
2. Sie sind Sprecher der Krankenkasse DAK. Schießen Sie gezielt Eigentore! Sie finden, die Ministerin teilt zu Unrecht gegen die Kassen aus. Es bietet sich eine hübsche Gelegenheit zur Rache: Einer Ihrer Versicherten, ein Nierenpatient, ist womöglich deshalb gestorben, weil er sich die Fahrt zur Dialyse nicht leisten konnte. Die DAK-Geschäftsstelle sah keinen Anlass, dem Mann rechtzeitig die Taxikosten zu bezahlen. Was erzählen Sie Bild am Sonntag? „So etwas wird sich leider täglich wiederholen können.“ Ha, das wird der Ministerin wie ein Felsbrocken auf die Füße fallen!, denken Sie. Dass DAK-Mitglieder dies als Aufforderung werten werden, die Kasse zu wechseln, fällt Ihnen erst auf, als Sie den Hörer wieder auflegen.
3. Sie sind Chef der Bundesärztekammer. Fordern Sie Sozialverträglichkeit, sobald Sie Ihre Schäfchen im Trockenen haben! Sie nehmen das Wort „Chaos“ im Zusammenhang mit der Umsetzung der Reform nicht in den Mund. So viel sind Sie der Ministerin schuldig. Schließlich gehören Sie zu den Reformgewinnlern: Arzthonorare werden mit einem neuen Vergütungssystem kräftig aufgestockt, den Ärztekartellen ist kein Leid geschehen. Trotzdem wird es Zeit, sich von Zuzahlungen und Praxisgebühr abzugrenzen, bevor jemand auf die Idee kommt, Sie haftbar zu machen. Fordern Sie also die Ministerin auf, bei der Sozialverträglichkeit „nachzubessern“. Die Menschen werden glauben, die Ärzteverbände würden Patienteninteressen vertreten.
4. Sie sind Redakteur der Bild-Zeitung. Lügen Sie schamlos! Führen Sie mit der Gesundheitsministerin ein Interview vor In-Kraft-Treten der Gesundheitsreform. Fragen Sie Ulla Schmidt, ob 10 Euro Praxisgebühr auch fällig werden, wenn Patienten nur ein Folgerezept abholen. Lassen Sie die Ministerin antworten: „Folgerezepte für die Antibabypille sollen gesetzlich von der Praxisgebühr befreit werden.“ Regen Sie sich nach In-Kraft-Treten der Reform auf. Kämpfen Sie als gut verdienender Redakteur der größten Boulevardzeitung Europas für die armen Schweine, die Patienten. Organisieren Sie den bundesweiten Protest. Schreiben Sie in großen, fetten Buchstaben auf Seite 1: „Frau Ministerin, Sie machen uns krank!“ Schreiben Sie eine Woche später, dass Ihr Protest Erfolg gehabt hat. Verkünden Sie wieder auf Seite 1 in großen, fetten Buchstaben, dass die Ministerin eingeknickt ist und jetzt klargestellt hat, bei Folgerezepten für die Antibabypille müssten keine 10 Euro Praxisgebühr gezahlt werden. Gehen Sie großzügig darüber hinweg, dass das drei Wochen vorher bereits in Ihrer eigenen Zeitung stand.
5. Sie sind grüne Gesundheitsexpertin. Tauchen Sie einfach ab! Sie waren sehr stolz drauf, in den Reformverhandlungen einen eigenen kleinen Akzent gesetzt zu haben. Unablässig forderten Sie mehr Wettbewerb, mehr etwa als die SPD. Die Rolle als Reformmotor in der Regierung, fanden Sie, stand Ihnen gut. Doch seit Jahresbeginn geht’s nur noch um Sozalhilfeempfänger, Heimbewohner, Kranke, kurz: um ungrüne Probleme. Die, finden Sie, soll die Ministerin mit ihrer SPD doch jetzt lieber alleine bewältigen. Äußern Sie sich am besten gar nicht. Ach doch, ein einziges Mal: um zu rechtfertigen, dass Beamte nur die halbe Praxisgebühr zahlen müssen.
6. Sie sind CDU-Gesundheitspolitiker. Tun Sie, als hätten Sie mit den sozialen Härten nichts zu tun! In den Reformverhandlungen haben Sie dafür gesorgt, dass den Ärzteorganisationen niemand zu nah auf die Pelle rückt. Außerdem waren Sie ja traditionell immer dagegen, die fantasievolle Preisgestaltung der Pharmaindustrie zu kontrollieren. Dafür aber sind Praxisgebühr und Co, überhaupt: die ganze prozentuale Belastung von Patienten auf Ihrem Mist gewachsen. Aber das ist inzwischen längst vergessen. Nutzen Sie jetzt jede Gelegenheit, die SPD und ihre Ministerin für Umsetzungsprobleme zur Verantwortung zu ziehen. Wählen Sie klare Worte zur Dramatisierung der Lage, etwa: „Gefahr im Verzug“.
7. Sie waren Experte in der Rürup-Kommission. Nutzen Sie Ihren Sachverstand für wilde Behauptungen! Sie selbst haben Expertisen für die Gesundheitsreform erarbeitet. Wenn einer rechnen kann, dann Sie. Wenn einer weiß, dass Kassenbeiträge sich nicht für politische Prognosen eignen, dann Sie. Sie langweilen sich jetzt ein bisschen. Was tun Sie? Nachdem selbst die Ministerin es nicht mehr wagt, zu behaupten, dass die Beiträge dieses Jahr auf 13,6 Prozent sinken, übernehmen Sie diesen Job. Warum auch nicht? Nachher werden sie als Erster vorrechnen können, warum es nicht geklappt hat. Sie sind Experte des Unionslagers? Dann behaupten Sie halt das Gegenteil: Die Beiträge werden auf 15 Prozent steigen. Oh ja, Sie haben gemerkt, dass die Nachrichtenagenturen klare Prozentangaben lieben. Und Sie lieben Ihren Namen in den Agenturen.
8. Sie sind PDS-Vorsitzender. Überreden Sie Ihre oppositionellen Wähler zu einem teuren Protest gegen die Praxisgebühr! Lernen Sie vom Klassenfeind. Aber richtig! Eine amerikanische Werbeagentur hatte die geniale Idee, Anzeigen auf Dollarnoten zu kleben. Verteilen Sie an Ihre PDS-Landesverbände 100 Stempel, mit denen als Protest gegen die neue Praxisgebühr 10-Euro-Scheine mit der Aufschrift „krank“ markiert werden können. Verschweigen Sie, dass Sie vergessen haben, abwaschbare Stempelfarbe zu benutzen. Sagen Sie Ihren frustrierten Wählern nicht, dass die von ihnen gestempelten 10-Euro-Scheine jetzt ungültig sind. Verlieren Sie kein Wort darüber, dass alle Genossen beim Arzt doppelt bezahlen: erst mit ungültigen 10 Euro und dann, nach Protest des Arztes, mit ungestempelten 10 Euro. Merken Sie erst hinterher, dass die Amerikaner nur getrickst haben: Ihre Werbeaufkleber auf den Dollarnoten waren ganz leicht zu entfernen.