: Das Ende der Blutsbande
Meine Tochter, deine Mutter – und unsere gemeinsamen Probleme: Maxim Billers neuer Roman „Esra“ erzählt von der neuen Unordnung der Liebe
Die Literaturkritik liebt es, sich an Maxim Biller abzuarbeiten. Es geht ein Raunen durchs Netzwerk, wenn er mal wieder die Seiten seines Lebensromans umblättert. Man hatte zugeben müssen, dass er als Journalist etwas taugte. Aber so viel meinte man zu wissen: mit dem Schritt zur Literatur würde er sich das Genick brechen. Als er sich dann mit seinen Short Storys behauptete, meinte man ihn vor dem Greifen nach der großen Form des Romans warnen zu müssen. Spätestens mit der „Tochter“ wurde er im Club der ernsten Schriftsteller willkommen geheißen. Denn mindestens in einer Hinsicht wird „Die Tochter“ zu Recht mit den Romanen Dostojewskis verglichen: wegen des Gewichts, der Last der Existenz, der tragischen Dimension. Biller hatte sich mit dieser „Tour de force“ bis an eine Grenze geschrieben.
Jetzt kommt er mit einem neuen Roman. Da ist etwas anderes am Werk. Der Ton des Ganzen ist sanft, manchmal versonnen. Biller gibt jede oberflächliche Brillanz und sardonische Verzerrung seiner frühen Erzählungen zugunsten einer neuen Verletzlichkeit auf. Da ist Sommer im Anfang des Buches, da werden leichte Kleider getragen und die Liebenden essen Wassermelone – und wenn es auch nur das Nordbad ist, aus dem das Lachen und Kreischen der Kinder herübertönt. Wir sind in München. Und es geht um Liebe. Es ist die Geschichte von Esra und Adam, dem Ich-Erzähler. Adam und Esra: Da soll das Glück des Anfangs dargestellt und eine Stimmung erschaffen werden, in der die Liebeskrüppel aus ihrer skeptischen und müden Zuwendung zum Nächsten wieder Liebeserklärungen machen.
Es könnte so schön sein. Es könnte so einfach sein. Aber das ist es natürlich nicht. Vielleicht sollte die Geschichte hier enden. Aber das kann sie natürlich nicht. Die Liebenden schließen die Vorhänge, um die Welt nicht einzulassen. Sie sickert doch herein.
Adam ist Schriftsteller und hat gegen Esras ausdrückliches Verbot etwas über ihre Familie geschrieben. Seither ist er in den Augen von Esras Mutter persona non grata. Da ist viel böses Blut in Lale, der herrschsüchtigen Patriarchin. Sie ist die Exekutive dessen, was der Erzähler als „Respektterror“ türkischer Familien bezeichnet. Denn Esra ist Türkin und verstrickt in ein Familiendrama aus Empfindlichkeiten und Verletzungen, Unversöhnlichkeit und Stolz. Die Mutter ist nicht die Einzige, die gegen diese Verbindung steht. Da ist der Exmann Esras und Exfreund Adams. Und da ist das Kind. Die zehnjährige Ayla, Frucht von Esras erster Ehe, die unter einer mysteriösen Krankheit leidet. Esra denkt, dass sich ihre psychischen Knoten in ihrem Kind körperlich ausdrücken.
Das Kind ist Opfer, eine Geisel in den Grabenkriegen der Erwachsenen. Die Verhältnisse im Roman sind modern, das heißt verkehrt: Esra bekommt Kinder von Männern, die sie nicht liebt. Von Adam, demjenigen, den sie liebt, bekommt sie keins. Auch Adam hat eine Tochter, die aber seit der Trennung bei seiner Exfrau lebt. Biller illustriert in diesem Reigen der Ungleichzeitigkeit von Liebe und Vaterschaft literarisch, was Alain Finkielkraut die „Neue Liebesunordnung“ genannt hat. Die Blutsbande wird Makulatur. Diese neue Freiheit jedoch scheint dem „persuit of happyness“ nicht sonderlich dienlich. Eher scheinen in Billers Klagelied von der Auflösung der Familie die fatalen Verstrickungen zuzunehmen. Denn alle sind Opfer: die Mutter, der Vater, das Kind.
Und natürlich auch Adam. Es ist immer der wehrlose Blick des verliebten Mannes, den er auf Esra wirft. Da liegt etwas Abwartendes, Rührendes, aber auch etwas Entwürdigendes in seinen Mutmaßungen über Esra. Dass alles auf seine Kosten geht, macht den Leser missmutig: erst gegen sie, dann gegen ihn – und dann auch gegen den Autor. Denn wo man sich eine Entwicklung wünscht, ist Stagnation, und statt Wendepunkten gibt es nur Rückfälle. Adams Ich-Erzählung gleicht einem Menschen, der seine Arme ausbreitet und losläuft, um zu fliegen. Und er läuft und läuft und hüpft vielleicht einmal und kommt etwas mehr in Fahrt: aber er hebt nicht ab. Es ist die Frage, ob es das ist, was Biller gewollt hat.
Billers Figuren werden nicht über Nacht zu rheinischen Frohnaturen. Aber selbst, wo ihnen der Leichtsinn des Anfangs abhanden kommt, fehlt ihnen die Härte der Zerknirschtheit. So heißt es über Esra: „Sie lächelte wieder ihr trauriges Es-ist-alles-umsonst-Lächeln, das aber etwas fröhlicher war als das letzte Mal.“ Ebenso Biller. Auch in seinem neuen Roman lächelt er sein Es-ist-alles-umsonst-Lächeln. Das aber etwas fröhlicher als das letzte Mal. MANUEL GOGOS
Maxim Biller: „Esra“. Kiwi, Köln 2003. 192 S., 18,90 €Ľ„Esra“ ist zwar noch im Buchhandel zu haben. Dem Verlag ist allerdings in einer einstweiligen Verfügung untersagt worden, den Roman weiter auszuliefern: Zwei Menschen sehen sich durch Billers offenbar autobiografisch geprägtes Werk in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt. (Siehe auch Porträt, Seite 13)