: Risikofaktor Mann
Der starke Anstieg der Gewaltkriminalität in den vergangenen Jahren geht fast ausnahmslos auf das Konto von Männern. Warum ist das so? Und wie kann und soll die Gesellschaft auf das Aggressionspotenzial der männlichen Bevölkerungshälfte reagieren? Ein mono.mag zum Frauentag
von JÜRGEN NEFFE
Kriminalstatistiken sprechen eine kalte Sprache. Seit Mitte der Achtzigerjahre, so ist daraus zu lesen, hat die Zahl gewaltsamer Verbrechen in Deutschland und anderen europäischen Ländern stark zugenommen – verantwortlich dafür sind zum größten Teil männliche Täter. „Eine derart ausgeprägte Dominanz der Männer bei der Gewaltkriminalität hat die Polizei zuvor noch nie gemessen“, stellt der bekannte Kriminologe und frühere niedersächsische Justizminister Christian Pfeiffer fest.
Noch krasser fällt das Urteil in der Analyse des Osnabrücker Sozialwissenschaftlers Dieter Otten aus: „Verbrechen ist männlich“, schreibt er in seinem Buch „MännerVersagen“. „Nicht Gewalt und Kriminalität bedrohen unsere Gesellschaftsordnung“, sagt der Soziologieprofessor, „sondern Männer.“
Otten und seine Mitarbeiter haben einzelne Bereiche der Kriminalität nach Geschlechtern unterschieden. Danach „gibt es nicht einen Kriminalitätsbereich, in dem Frauen eine nennenswerte Rolle spielen“. Selbst die meisten Ordnungswidrigkeiten „kennen nahezu überhaupt keine weiblichen Beteiligungsquoten“. Das Verhältnis von männlichen zu weiblichen Tätern bei Sexualdelikten – 99,99 zu 0,01 Prozent – mag weniger überraschen. Aber auch bei Raub beträgt es noch 99,9 zu 0,1 Prozent, bei Betrug 99 zu 1.
Selbst bei Verkehrsdelikten förderte die kriminologische Differenzialanalyse eine Männerquote von 98,8 Prozent zutage. Frauen verursachen zwar mehr als die Hälfte aller Blechschäden, ihr Anteil an den geahndeten Vergehen wie Überfahren roter Ampeln oder Überholen trotz Verbots fällt aber so gut wie nicht ins Gewicht.
Dass der weibliche Teil der Bevölkerung überhaupt mit 11,4 Prozent bei den „Gesamtdelikten“ zu Buche schlägt, ist im Wesentlichen auf den Faktor Ladendiebstahl zurückzuführen. Hierbei gelte es allerdings zu berücksichtigen, sagt der Wissenschaftler, dass Frauen sehr viel häufiger einkaufen gehen. Gemessen daran, wie viel öfter sie Geschäfte aufsuchen, sei auch in diesem Bereich die Anzahl der Täterinnen „eklatant niedrig“. Betrete ein Mann einen Laden, dann sei „die Gefahr, die von ihm für den Warenbestand, für die Kasse oder für die Mitarbeiter des Supermarktes ausgeht, genauso groß wie die Gefahr von 25 bis 30 Frauen“.
Alarmierend, so Otten, sei vor allem das wachsende Missverhältnis zwischen den Geschlechtern, eine Schere, die sich immer weiter öffnet: Während die Anzahl männlichen Straftäter in den vergangenen zwanzig Jahren überproportional mit über dreihundert Prozent stieg, ging die der weiblichen um 1,4 Prozent leicht zurück.
Im Kern des Anwachsens männlicher Kriminalität steckt das Grundübel Männergewalt. Seine Spur durchzieht den gesamten Zivilisationsprozess, nistet mehr oder weniger tief im Gewebe aller Gesellschaften. Krieg, Bürgerkrieg und Terrorismus bilden nur die spektakuläre Spitze eines ewigen Eisbergs, der ohne männliche Aggression längst dahinschmelzen würde.
Darunter befindet sich ein breites Fundament alltäglicher „Devianz“ (so der Fachausdruck für die Normabweichung), die von der Züchtigung wehrloser Kinder und erzwungenem Sex im Intimfeld der Familie bis zum weltweiten Geschäft mit Kinderpornografie per Internet und Video sowie dem internationalen Mädchenhandel stets eine maskuline Handschrift trägt. Amoklauf, bis zur Schreckenstat von Erfurt im vorigen Jahr fälschlicherweise für eine hauptsächlich amerikanische Erscheinung gehalten, ist ein rein männliches Phänomen.
Zwar haben sich, statistisch gesehen, Jugendkriminalität und Jugendgewalt seit 1998 leicht rückläufig entwickelt, die Brutalität der Gewaltausübung aber hat sich verstärkt, als Anlass reicht häufig eine Bagatelle, während das Ausmaß und die Hemmungslosigkeit in der Wahl der Mittel zunehmen. Ein Viertel aller Schüler wird nach neuesten Erhebungen jedes Jahr Opfer „massiver Schulgewalt“. Regelmäßig wird die Frage nach Macht und Einfluss innerhalb von Klassen und Cliquen über das Faustrecht entschieden, und in der erdrückenden Mehrzahl der Fälle gehört die Faust einem Jungen oder einem jungen Mann. Bei der Altersgruppe des Erfurter Täters, bei den 18- bis 21-Jährigen, lag die Quote registrierter männlicher Gewalttäter im Jahr 2000 um das 12,5fache über der weiblichen.
„Wir haben kein Jugendgewaltproblem“, betont Christian Pfeiffer wieder und wieder, „wir haben ein Jungengewaltproblem.“ Es sei endlich an der Zeit, diese Tatsache zu thematisieren. „Gewalt hat ein Geschlecht“, sekundiert Emma und spricht vom „bestgehüteten Geheimnis“. Die Praxis selbst aufgeklärter kritischer Medien scheint diese Vermutung zu bestätigen: In der „Kursbuch“-Ausgabe vom März 2002 zum Thema Gewalt etwa wird das Problem Männergewalt auf über 170 Seiten mit keiner Zeile behandelt.
Während „man Frauen attestieren kann“, so Dieter Otten angesichts seiner Statistiken, „dass sie auf ganz wunderbare Weise harmlos sind“, muss die Gesellschaft „damit leben, dass ein harter Kern von Männern, vielleicht drei bis vier Prozent, kriminell ist“.
Täter Mann. Polizei und Staatsanwaltschaften, Einsatzkommandos gegen rechte wie linke Schläger und Fußballrowdys, Betrugsdezernate, Mordkommissionen, Straf- und Verkehrsgerichte, Gefängnisse und forensische Psychiatrien, aber auch Spezialisten im Kampf gegen erzwungene Prostitution und Pornografie und nicht zuletzt Einrichtungen zum Schutz misshandelter und missbrauchte Frauen und Kinder beschäftigen sich fast ausschließlich mit den Folgen männlichen Fehlverhaltens. Die volkswirtschaftlichen Belastungen hat noch niemand genau ermittelt. Sie dürften sich in Deutschland jährlich im hohen zweistelligen Milliardenbereich bewegen. Der Soziologe Walter Hollstein hat vor einiger Zeit die dem Staat allein durch „fehlgeleitetes Ausleben der traditionellen Männlichkeit“ entstehenden Kosten auf 15 Milliarden Euro im Jahr geschätzt. Und nicht nur der materielle Schaden ist immens. Männergewalt vergiftet das soziale Miteinander.
Dass dabei häufig große Mengen Alkohol eine Rolle spielen, darf nicht als mildernder Umstand gewertet werden. Es verschärft nur das Problem. Wer erinnert sich nicht an die schockierenden Bilder während der Fußballweltmeisterschaft 1998 in Frankreich, als drei deutsche Hooligans den Polizisten Daniel Nivel in der Stadt Lens niederschlugen und den Wehrlosen dann so zurichteten, dass er mit seinen schweren Kopfverletzungen wochenlang im Koma lag und bleibende Schäden davontrug? Oder an den Überfall dreier Skinheads im Juni 2000 in Dessau auf den Mosambikaner Alberto Adriano, der seinen Verletzungen erlag? Oder auch an Frank Schmökel und Dieter Zurwehme? Oder Bad Reichenhall, Erfurt? Täter: Männer.
Ob rassistisch begründete Überfälle auf Ausländer, ermordete Asylbewerber und Obdachlose, ob verwüstete Innenstädte nach Fußballspielen oder demolierte Eisenbahnwagen, ob autonome Putztruppen, militante Chaoten, Türkengangs oder Mafiabanden, ganz abgesehen von den oft grausamen Folgen struktureller Gewalt in Familie und Betrieb – ohne das destruktive Machogehabe wären Länder wie die Bundesrepublik dem Ideal einer „Zivilgesellschaft“, wie Bundeskanzler Schröder sie fordert, schon ziemlich nahe.
Das Szenario eines Gemeinwesens, in dem sich der männliche Teil der Bevölkerung in puncto öffentlicher Ordnung und Verhalten gegenüber Mitmenschen nicht wesentlich vom weiblichen unterschiede, liest sich geradezu utopisch: Die Zahl der Toten und Verletzten im Straßenverkehr ginge auf einen Bruchteil der gegenwärtigen Anzahl zurück; die Prämien für Versicherungen gegen Einbruch und Vandalismus würden lächerlich klein; die Gefängnisse kämen mit weniger als fünf Prozent der heute vorhandenen Plätze aus; Frauen, Mädchen, aber auch kleine Jungen wären von der Angst vor Übergriffen durch Peiniger, Schläger und Vergewaltiger befreit; Eltern könnten ihre Kinder ohne Sorge vor Entführung und Misshandlung aus dem Haus lassen; niemand müsste sich fürchten, nachts allein auf die Straße zu gehen; ausländische Mitbürger und Gäste könnten sich nahezu sicher in Deutschland bewegen; Lehrer und Schüler könnten einander unbeeinträchtigt von Einschüchterungen zum Zweck des gemeinsamen Unterrichts begegnen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Selbst stramme Feministinnen geben sich angesichts solcher Visionen, die nicht einmal die Ablösung des herrschenden Patriarchats durch ein Matriarchat beinhalten, keinerlei Illusion hin. Ein Aufhalten und Umkehren des bestehenden Trends gälte den meisten schon als Erfolg. Dafür aber müsste das Problem an der Wurzel gepackt werden.
Längst hat sich eine Armada von Forscherinnen und Forschern darangemacht, die Ursachen für Männerkriminalität und Männergewalt dingfest zu machen. Je mehr sie herausfinden und zusammentragen, desto deutlicher werden auch mögliche Maßnahmen erkennbar: Sie decken den gesamten Bereich zwischen Zuckerbrot und Peitsche ab und reichen von der frühkindlichen Fürsorge über die pädagogische Vorsorge im Schulalter bis hin zum Deeskalationstraining für erwachsene Delinquenten.
Wie aber lässt sich der eklatante Unterschied zwischen den Geschlechtern erklären? Was treibt einen Teil der Männer in Verbrechen und Gewalt? Versagt die Erziehung im Elternhaus, in der Schule? Sind die Medien schuld? Oder liegt es schlichtweg an den Genen?
Der einzige genetische Unterschied zwischen Mann und Frau lässt sich in den Geschlechtschromosomen festmachen. Frauen haben zwei X-Chromosomen, Männer ein X- und ein Y-Chromosom. Ansonsten sind sie in genetischer Hinsicht gleich. So vergebens sich Verhaltensgenetiker bemühen, Merkmale wie Intelligenz, Homosexualität oder die Neigung zu Alkoholismus im Erbgut zu verorten, so wenig ist ihnen der Nachweis gelungen, dass sich Aggressivität direkt vererbt – obwohl sich der Zusammenhang zwischen Straftat und dem einzigen rein männlichen Teil des Genoms geradezu aufdrängt: Bei Y droht Krawall. Träger des Chromosoms sind potenzielle Täter. Nur warum?
In dem Wörtchen „potenziell“ steckt der Pferdefuß allen Biologismus: Auch wenn Daten und Fakten unzweideutig auf eine männliche Veranlagung zu destruktivem Verhalten hinzuweisen scheinen, eine kausale Kette von den Genen über das Gehirn bis zur Gewalt lässt sich beim besten Willen nicht konstruieren. Wenn überhaupt, dann liegen Ursache und Wirkung so weit auseinander, dass Umwelt und Erziehung vielfältig in das Räderwerk eingreifen: Elternhaus, Schule und Freundeskreis, aber etwa auch Videospiele und Vorbilder aus Film und TV fördern oder verhindern das Abdriften einer genetischen Anlage in Angriffslust und Gewaltausbruch.
Der Psychologe James Garbarino von der New Yorker Cornell-Universität hat das Zusammengehen von Natur und Umwelt folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Biologisch begründete Prädispositionen zur Gewalt übersetzen sich nur in Verhalten, wenn sie auf soziale Situationen treffen, die es erlauben oder ermutigen.“ Zu Deutsch: Kein Mann wird als Täter geboren – der Natural Born Killer ist eine mediale Fiktion. Nicht Disposition allein, sondern eine Vielzahl äußerer Umstände führt schließlich zur Untat.
Der verlockende Kurzschluss zwischen Biologie und Bandenkriminalität, zwischen Evolution und moralischer Entgleisung fußt nicht unwesentlich auf Erkenntnissen und Hypothesen der Verhaltensforschung, die Konrad Lorenz 1963 in seinem Werk „Das so genannte Böse“ zusammenfasste: Die Gewaltbereitschaft der Männer sei so überwältigend, glaubte der Nobelpreisträger, dass sie auf ein angeborenes Handlungsmuster schließen lasse, einen „Aggressionstrieb“.
Flankenschutz erhielt diese heute weitgehend überholte These durch Beobachtungen am nächsten Verwandten des Menschen, dem Schimpansen. Das Ausmaß der Brutalität vor allem von Alphamännchen, die sich gleichermaßen gegen Weibchen und männliche Konkurrenten richtet, erinnert fatal an die Auswüchse häuslicher Gewalt und das hemmungslose Ausleben von Kampfeslust unter Jungen und Jugendlichen beim Erringen oder Verteidigen der Führerschaft in Gruppen und Gangs. Die Beobachtung, dass Schimpansenmänner in Konflikten zwischen benachbarten Stämmen ihre Artgenossen töten und sogar vollständig ausrotten können, legte die Vermutung nahe, selbst Krieg und Völkermord hätten biologische Wurzeln.
Stanley Kubrick und Arthur Clarke haben diesem Mythos in den Anfangssequenzen ihres filmischen Meisterwerks „2001 – Odyssee im Weltraum“ ein bleibendes Denkmal gesetzt: Die Affenmänner der einen Gruppe entdecken Oberschenkelknochen als Waffen und erschlagen erstmals in der Menschheitsgeschichte „die Anderen“ – sozusagen der Vater aller Kriege. Nun schreiben wir das Jahr 2001 + 2, doch weder hat die Erforschung der künstlichen Intelligenz einen bewussten Computer hervorgebracht, der wie Kubricks HAL die Geschicke des Menschen in die Hand nehmen könnte, noch ist es der Genetik gelungen, angeborene männliche Aggressivität nachzuweisen – trotz ihrer Erfolge bei der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts.
So einfach ist der Zusammenhang zwischen Molekül und Moral nicht herzustellen. Und auch der Versuch zweier US-amerikanischer Evolutionspsychologen vor ein paar Jahren, Vergewaltigung als natürlichen Vorgang im evolutionären Anpassungsprozess zum Selektionsvorteil der Männer zu erheben, erwies sich als soziobiologischer Rohrkrepierer. Allein die Erkenntnis, dass die Bonobos, ebenso nahe äffische Verwandte des Menschen wie Schimpansen, offensichtlich bar jeder Brutalisierung seitens der Männer den „Kampf ums Dasein“ bestanden haben, nährt Zweifel an der evolutionär bedingten Zwangsläufigkeit männlicher Gewalt.
Auch wenn manche Leute schon von der Optimierung des Menschen durch „Anthropotechniken“ träumen, wie der Philosoph Peter Sloterdijk das biotechnische Instrumentarium zur Manipulation des Erbguts nannte, Gewalt und Aggression sind über Züchtung oder Gentherapie nicht in den Griff zu bekommen. Die Analyse des komplexen Phänomens menschlicher Gewalt wird grundsätzlich dadurch erschwert, dass die Aufteilung der Täter nach Geschlechtern allen Statistiken zum Trotz nicht eindeutig ausfällt. Frausein schützt bekanntlich nicht absolut vor Täterschaft. Übergriffe auf Kinder und Ehemänner, sexuelle Ausbeutung Minderjähriger, Terror und Totschlag, Mord und Misshandlung werden ebenfalls von Müttern und Töchtern verübt – wenn auch nur in Ausnahmefällen. Und nicht selten sind es Frauen, die als Claqueurinnen und Einpeitscherinnen Männer zu destruktivem Verhalten antreiben.
Umgekehrt fällt beileibe nicht jeder männliche Mensch durch Brutalität oder Bestialität auf – im Gegenteil: Die große Mehrheit der Väter und Söhne weist am Lebensende eine Biografie auf, die durch keinerlei Schand- oder Straftaten getrübt ist. Mannsein allein führt nur in der Minderzahl der Fälle in einen Lebenslauf, der von Gewalt und Missetat belastet ist. Selbst Männer mit einem überzähligen Y-Chromosom – sie werden größer und sehen robuster aus als der durchschnittliche Geschlechtsgenosse – haben entgegen früheren Annahmen weder eine erhöhte Gewaltbereitschaft noch eine ausgeprägtere Neigung zur Kriminalität.
Gewaltforschung erweist sich als Paradebeispiel dafür, wie blinder Biologismus und purer Glaube an Genetik zu kurz greifen können – vor allem wenn Veranlagung als Ersatz für Verantwortung für Taten herangezogen wird. Allenfalls lassen sich bei bestimmten Formen der Aggression, etwa bei impulsivem Gewaltverhalten, Zusammenhänge mit anatomischen und biochemischen Faktoren feststellen.
Das Stirnhirn beispielsweise funktioniert wie eine Notbremse gegen den aggressiven Impuls. Untersuchungen an Mördern in den USA haben ergeben, dass bei ihnen Teile des „Präfrontalcortex“ auffallend wenig aktiv waren. Menschen, deren Stirnhirne im Kindesalter verletzt wurde, neigen zu explosionsartigen Wutausbrüchen. Bei Männern, die aggressives Verhalten zeigen, kann das System des Botenstoffs Serotonin im Stirnhirn gestört sein. Wird die Synthese des Hormons im Körper behindert, können auch ansonsten unauffällige Männer – im Experiment – auf Provokationen aggressiv reagieren. Solche Störungen können auf natürliche Weise bei der Geburt entstehen und auch genetisch bedingt sein – allerdings im pathologischen Sinn: Sie betreffen nur eine winzige Minderzahl gewalttätiger Männer.
Die massenhafte männliche Gewalt lässt sich ebenso wenig damit erklären wie mit einem angeblich existierenden „Gewaltgen“. 1993 hatten niederländische Forscher bei den Männern eines Familienclans eine spontane Erbgutveränderung entdeckt, die sie in Zusammenhang mit gewalttätigem Verhalten brachten. Diese Mutation bewirkt eine erniedrigte Konzentration des Enzyms „Monoaminoxidase A“. Die statistische Korrelation zwischen dem Auftreten der Mutation und der Neigung zur Aggression bedeutet freilich nicht Kausalität. Etliche männliche Mitglieder des Clans führen überdies trotz der Mutation ein regelhaftes, gewaltfreies Leben. Aus alledem lässt sich folgern: Es ist nicht sein Erbgut, was den Mann zum Täter macht.
Einen Stoff gibt es jedoch, der mehr als alle anderen mit typisch männlichen Verhaltensweisen, auch mit Gewalt, zusammenhängt: Testosteron (T). Beide Geschlechter produzieren dieses Sexualhormon in ihrem Körper, Männer aber zehn- bis zwanzigmal so viel wie Frauen. Zweimal im Leben wird der männliche Organismus mit Testosteron überflutet – und dabei scheint das Y-Chromosom eine Rolle zu spielen: Etwa sechs Wochen nach der Zeugung sorgt der erste Schwall unter anderem dafür, dass sich beim männlichen Fetus Penis und Hoden bilden. Der zweite Schub läutet die Pubertät ein und führt zu Stimmbruch, Haar- und Muskelwuchs. Das den Androgenen zugerechnete Hormon steigert den männlichen Sexualtrieb, Bodybuilder verwenden T-Präparate zum Muskelaufbau.
Testosteron steht bei beiden Geschlechtern für Aggressivität – und für Ärger. In US-amerikanischen Studien an Gefängnisinsassen und -insassinnen zeigte sich, dass jeweils diejenigen mit den höchsten Werten des Hormons am wahrscheinlichsten mit dem Knastpersonal in Konflikt gerieten. Der Testosteronspiegel geht allgemein in konfrontativen Situationen hoch. Untersuchungen an Tennisspielern haben gezeigt, dass die Testosteronproduktion während des Matchs bei beiden Gegnern ansteigt, nach der Entscheidung beim Sieger weiter zunimmt, beim Verlierer aber wieder zurückgeht. Strafverteidiger haben höhere T-Werte als andere Anwälte, körperlich Arbeitende höhere als geistig Arbeitende. Berufstätige Frauen haben mehr von dem Hormon in ihrem Blut als solche, die zu Hause bleiben, und selbst ihre Töchter weisen mehr Testosteron auf als die von Hausfrauen.
Mit Genetik hat das nichts zu tun, sondern mit Funktion und Stellung in der Gesellschaft. Vor allem Männer geraten mitunter in eine regelrechte Testosteronfalle, in der sich Umweltreize und Hormonspiegel auf gefährliche Weise gegenseitig hochschaukeln: Jugendliche in städtischen Problembezirken können höhere T-Werte entwickeln als solche in behüteten Gegenden. Das kann generell ihre Hemmschwelle vor Konfrontation herabsetzen. Kommt es dann zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, steigern diese wiederum den Hormonpegel – ein Teufelskreis.
Keine Studie konnte bislang jedoch einen direkten Zusammenhang zwischen Testosteronkonzentration und Gewaltverhalten oder Kriminalität nachweisen. Aufschlussreicher als alle Ansätze, das Rätsel Männergewalt mit den Mitteln der Biologie zu entziffern, sind Analysen aus den Humanwissenschaften einschließlich der Kriminologie. Da sich Gene und Gehirn innerhalb einer Generation nicht oder so gut wie nicht verändern, lässt sich die sprunghafte Zunahme aggressiven Verhaltens in den letzten zwanzig Jahren ohnehin nicht allein biologisch erklären. Untersuchungen äußerer Umstände – der häuslichen Umwelt, der schulischen Umgebung und des gesellschaftlichen Umfelds – haben schlüssigere Resultate gezeitigt als alles Stochern im Nebel der Evolution.
Immer deutlicher zeichnen sich dabei Tendenzen für den Weg von der Unvorbelastetheit des männlichen Säuglings zum Aggressionspotenzial jugendlicher und erwachsener Männer ab:
– Gewalt ist in der Regel ein erlerntes Verhalten.
– Gewalttäter waren oft selbst Opfer (und/oder Beobachter) von Gewalt.
– Mannsein ist nur einer unter vielen Risikofaktoren.
– Während der ersten Jahre kindlicher Entwicklung werden entscheidende Weichen gestellt.
– Für jegliche Gewaltprävention gilt: Wehret den Anfängen. Je früher Vorbeugemaßnahmen aggressivem Verhalten steuern, desto erfolgreicher lässt sich spätere Delinquenz verhindern.
Um allerdings das spezifisch Männliche im allzu menschlichen Abweichen von der Moral zu verstehen, bedarf es eines Schrittes, den vor allem Frauenbewegte lange Zeit nicht gehen wollten: Nur wer den Unterschied zwischen den Geschlechtern akzeptiert, kann die Ursachen männlicher Unmoral beurteilen. Alice Schwarzer und ihre Schwestern haben den schwierigen Schritt in die Wirklichkeit inzwischen vollzogen. „Der große Unterschied“ heißt das jüngste Buch von Deutschlands bekanntester Frauenrechtlerin, die vor einem Vierteljahrhundert mit „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ Aufsehen erregte. Nicht die biologische Verschiedenheit treibt sie nun um, sondern das, was aus ihr gemacht wird. Statt Gleichheit von Jungen und Mädchen steht Gleichberechtigung von Mann und Frau heute im Zentrum der feministischen Agenda.
Noch sind die Frauen weit von diesem Ziel entfernt. Nach einem UNO-Report wird jede dritte Frau Opfer häuslicher Gewalt und jede vierte als Erwachsene vergewaltigt. 42 Prozent der misshandelten Frauen haben laut einer US-Studie einen Selbstmordversuch unternommen, und sechzig bis siebzig Prozent aller Psychiatrieinsassinnen sind Missbrauchsopfer.
Es waren vor allem Statistiken, die mit erdrückender Beweislast ein Umschwenken im Geschlechterdenken erzwangen. Keine Institution in Deutschland hat sich bei den Erhebungen ähnlich hervorgetan wie das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) in Hannover. Der im Sommer 2001 veröffentlichte Sicherheitsbericht der Bundesregierung, der erste seiner Art, trug daher auch nicht unwesentlich die Handschrift der KFN-Wissenschaftler. Wenn so etwas wie eine Mission als Voraussetzung für den Job des Missionars gilt, dann darf Christian Pfeiffers Wirken als vormaliger KFN-Direktor und Kriminologieprofessor durchaus missionarisch genannt werden. Wer der Gewalt Einhalt gebieten will, so Pfeiffers Credo, muss ran an den Mann. Und zwar möglichst früh.
„Als Kriminologe wird man zum Feministen“, sagt der ehemalige niedersächsische Justizminister. Pfeiffer versteht es immer wieder, mit seinen Thesen die Zuhörer zu provozieren. Vor den versammelten Herren eines Rotary Clubs, der sich gegen die Aufnahme weiblicher Mitglieder sperrt, hielt er vor einiger Zeit einen Vortrag mit dem Titel: „Gefährdet die Dominanz der Männer das Überleben der Menschheit?“ Pfeiffers Daten und die seiner KFN-Kollegen deuten sämtlich in eine Richtung: Gewalt kommt von Gewalt. Nicht ausschließlich, aber eindeutig. Kinder, die zu Hause Gewalt erleben, ob als Opfer oder als Beobachter, kommen mit großer Wahrscheinlichkeit später selbst aktiv oder passiv mit Gewalt in Konflikt.
Hier aber zeigt sich drastisch der Unterschied zwischen den Geschlechtern: Mädchen erfahren „elterliche Partnergewalt“ in der Regel als Symbol für Ohnmacht und Unterwerfung, Jungen dagegen übernehmen das männliche Rollenmodell und neigen zu erhöhter Gewaltbereitschaft. Wie stark sich misshandelte Jungen mit den Tätern, missbrauchte Mädchen aber mit der Rolle des Opfers identifizieren, zeigen Zahlen aus verschiedenen Untersuchungen: Bei einer Erhebung unter 22.000 Schweizer Rekruten erklärten etwa zwei Drittel derer, die Vergewaltigungen zugaben, dass sie als Kinder selbst missbraucht worden seien. Der Rest hatte in der Kindheit zumindest Schläge einstecken müssen. Umgekehrt werden Frauen, die als Kinder missbraucht wurden, später zehnmal so wahrscheinlich vergewaltigt wie solche, die ihre Kindheit unbeschadet von sexuellen Übergriffen überstanden.
In jüngster Zeit ist häufig eingewendet worden, der Einfluss der Eltern auf die Entwicklung werde überschätzt. Die Peer Group, also jene Gleichaltrigen, mit denen sich Kinder umgeben, sei sehr viel entscheidender. Pfeiffer hält dem entgegen, „dass Jugendliche ihre Cliquen vor ihrem individuellen und kulturellen Hintergrund anscheinend in einer Art wählen, die eine Passung mit ihrer familiären Biografie aufweist“. Jungen mit Gewalterfahrung schließen sich häufig solchen an, die diesen Hintergrund mit ihnen teilen. „Von daher“, so der Kriminologe, „ist auch die Gleichaltrigengruppe ein Element in einem Kreislauf der Tradierung und Verfestigung von Gewaltbereitschaft.“
Pfeiffer, dem Zahlenfreak, gebührt das zweifelhafte Verdienst, das süße Gift der Statistik auch in jenen Zonen zu saugen, die in Zeiten politischer Korrektheit mehr oder weniger tabu waren: Er und seine KFN-Kollegen fragten sich zum Beispiel, wie die Daten beim nichtdeutschen Teil der Bevölkerung Deutschlands aussehen. Nicht nur ließ sich zeigen, „dass die Rate der innerfamiliären Gewalt in jugoslawischen und türkischen Familien zwei- bis dreimal so hoch ist wie in den Familien von einheimischen deutschen Jugendlichen“. Es habe sich ferner gezeigt, „dass dieses Aufwachsen in einer Machokultur wesentlich zu der höheren Gewaltkriminalität“ beitrage.
Der Ausländeranteil in Deutschland von lediglich fünf Prozent relativiert freilich die Zahlen. Und dass die Herkunft allein nicht den Ausschlag gibt, zeigen die niedrigen Gewaltraten unter ausländischen Mädchen. Pfeiffer verweist auch darauf, dass zwei Drittel der türkischen Gymnasiasten weiblich sind. Vielmehr gehe es um ein „traditionelles Konzept männlicher Dominanz“, das mit den Einwanderern nach Deutschland gekommen sei und komme. Er spricht von „importierter Machokultur“ und hebt eine weitere Gruppe männlicher Delinquenten hervor, die sich in der Statistik in einer merkwürdigen Allianz mit ihren Todfeinden vereint: Rechtsradikale Ostdeutsche und Ausländer haben beide nicht unwesentlich zum Anstieg der Männergewalt seit 1989 beigetragen.
Während Pfeiffer im Osten als Ursache für Gewaltbereitschaft besonders „einen eklatanten Mangel an Selbstvertrauen“ ausmacht, nennt er im Fall gewalttätiger Ausländer vor allem „soziale Benachteiligungen und schlechte Zukunftschancen“. Die freilich gelten für alle Spielarten männlicher Gewalt – und für Angehörige aller Nationalitäten. Die Arbeitslosigkeit des Partners bzw. Vaters verdoppelt das Risiko einer Frau, vergewaltigt, und verdreifacht das der Kinder, misshandelt zu werden. Die soziale Komponente lässt sich auch zum Bildungsstand der Opfer in Beziehung setzen: Während die Zahl der Gymnasiasten, die über Misshandlungen im Elternhaus klagen, bei fünf Prozent liegt, sind es bei den Hauptschülern fünfzehn Prozent.
Zusammenhänge zwischen zerrüttetem Elternhaus und verpfuschtem Lebensweg, aber auch zwischen wirtschaftlicher Not in der Jugend und Delinquenz im Erwachsenenalter sind immer wieder beschrieben worden. Das alles gelte, so Pfeiffer, freilich auch für Mädchen, bei denen sich Gewalt nicht in neue Gewalt übersetzt oder Armut in Auffälligkeit. Ihre soziale Kompetenz schützt sie offenbar besser als Jungen, die für Problemlagen empfindlicher und empfänglicher sind und mit Ausfällen reagieren.
Pfeiffer hält einen Faktor für wesentlich, den der Film „Fight Club“ schon Ende 1999 eindrucksvoll ins Bild setzte: die „Krise der Männlichkeit“. „So weit sind wir gesunken“, lässt Regisseur David Fincher darin Hollywoodstar Brad Pitt alias Tyler Durden zu seinem namenlosen Freund sagen, „die Frauen machen mit uns, was sie wollen.“ Der Film hat ein einziges Thema, die gegenwärtige male malaise, und er zeigt, wie sich dieses männliche Unbehagen in der unbedingten Sehnsucht nach echter Erfahrung äußert. Durden und sein Freund gründen einen Untergrundclub, in dem junge Männer nach festen Regeln in brutalster Weise einander die Fresse polieren. Sie suchen den Schmerz, sie wollen sich endlich selber spüren und verstehen, was sie als Männer eigentlich sind.
Die gerade unter Jungen so ausgeprägte Suche nach Thrill und Risiko, wie sie sich etwa im S-Bahn-Surfen oder in illegalen Autorennen äußert, hat eine ähnliche Motivation. Der zunehmende Zweifel an ihrer Rolle im Speziellen und der Realität im Allgemeinen führt viele Jungen und Männer in die Gewalt – auch gegen sich selbst. Sogar bei der Selbsttötung hat sich die Rate deutlich zu Lasten männlicher Täter-Opfer erhöht. Kamen in Deutschland vor fünfzehn Jahren auf eine Frau, die freiwillig aus dem Leben schied, noch zwei Männer, so sind es heute schon drei. Die Suizidrate bei Jungen liegt sogar je nach Altersdefinition vier- bis achtmal höher als die der Mädchen. Dabei gehen auf das Konto weiblicher Lebensmüder sogar mehr „suizidale Handlungen“ als auf das der männlichen. Sie enden aber weitaus seltener mit dem Tod.
Insofern verdient beim äußersten autoaggressiven Akt das schwache Geschlecht seinen Namen, da es sehr viel weniger konsequent zu Werke geht. Nicht zuletzt unter diesem Gesichtspunkt „eignet“ sich der männliche Teil einer ansonsten in gleichem Maße fanatisierten Bevölkerung auch so viel besser zum Selbstmordattentäter. Von sehr wenigen spektakulären Ausnahmen abgesehen, sind es junge Männer, die sich als wandelnde Bomben in die Luft sprengen, um andere mit in den Tod zu reißen. Die Attentäter des 11. September rekrutierten sich ausnahmslos aus dem männlichen Teil ihrer Völker.
Obwohl das „starke Geschlecht“ noch immer fast alle Schaltstellen in Politik und Gesellschaft besetzt, sieht es sich erstmals in der modernen Geschichte einer wachsenden Konkurrenz des „schwachen“ ausgesetzt. Mädchen bringen durch die Bank bessere Leistungen in der Schule. Sie bleiben nur halb so häufig sitzen wie Jungen, die zwei Drittel der Schulabsolventen ohne Abschluss stellen und auf den Sonderschulen 86 Prozent der Schüler. Berufe mit hohem Männeranteil, also typische Malocherjobs wie Maurer oder Landarbeiter, sind immer weniger angesagt, während für Frauen geeignete – von der Telefonistin bis zur IT-Expertin, von der Krankenpflegerin bis zur Ärztin – gefragter sind denn je. Die Frauenquote unter Abiturienten wie Studenten hat fünfzig Prozent überschritten, mit Macht drängt Frauenpower in traditionell männerbeherrschte Bereiche vor. Wenn auch bislang noch selten in den absoluten Spitzenfunktionen, die Chefin ist längst zur – für viele Männer schwer zu ertragenden – Realität geworden. Die häufige Reaktion der Kerle: hilfloses Um-sich-Schlagen. Sobald Frauen bei der Schulbildung, bei beruflicher Qualifikation und Erwerbstätigkeit mit dem Mann gleichziehen oder ihn gar abzuhängen drohen, steigt ihr Risiko, Opfer einer Gewalthandlung des eigenen Partners zu werden, auf rund das Doppelte.
Ein gefährliches Gebräu aus Verunsicherung und Überlegenheitsgefühl – die letzte Rache der Männer an den aufstrebenden Frauen? Dietrich Schwanitz, Autor des Buchs „Männer“, sagt, die Männlichkeit sei funktionslos geworden. Auch Dieter Otten, der Osnabrücker Sozialwissenschaftler und Autor von „MännerVersagen“, sieht das männliche Geschlecht in eine „strukturelle Orientierungskrise geraten“. Gewalt, vermutet er, sei „oftmals nur der letzte verzweifelte Mechanismus, mit dem die gequälte Psyche eines orientierungslosen Menschen auf Situationen reagiert“. Muss der alte „Ärzte“-Hit „Männer sind Schweine“ nun umgeschrieben werden in „Männer sind arme Schweine“?
Einen der erfolgversprechendsten Wege, das Gewaltpotenzial zumindest einzudämmen, sehen Experten in möglichst früher Intervention. Bevor Kinder und speziell Jungen sich Gewalterfahrungen zu Eigen machen, besteht die größte Chance, sie buchstäblich vor sich selbst zu retten. Im November 2000 verabschiedete der Deutsche Bundestag ein Gesetz, das Gewalt in der Kindererziehung untersagt. Dieses Verbot elterlicher Züchtigung, ein gewaltiger Schritt in die richtige Richtung, trägt nur einen Makel: Es ist so gut wie unbekannt. In Schweden gibt es eine vergleichbare Regelung, und die kennt fast jedes Kind. Anders als die deutsche hat die schwedische Regierung ihr Programm aktiv bekannt gemacht, ein Hinweis findet sich beispielsweise auf jeder Milchflasche. Dass sich in dem skandinavischen Land sehr viel mehr gefährdete und geschlagene Kinder an Hilfsorganisationen wenden, hat einen weiteren Hintergrund: Die Aufklärungsprogramme haben erreicht, dass die Kleinen den Helfern vertrauen.
Nur die Sicherheit, dass die professionellen Partner schweigen, dass sie diskret beraten und niemals ohne das Einverständnis des Minderjährigen weitere Schritte unternehmen, etwa Jugendamt oder Polizei einschalten, könnte auch in Deutschland mehr Hilfesuchende zum Telefon greifen lassen. Nur etwa fünf Prozent der Betroffenen hierzulande melden sich beim Kinderschutzbund. Dabei ist die Situation äußerst alarmierend. Drei Viertel aller missbrauchten Kinder wurden vom Vater (oder dem Freund der Mutter) geschändet, und 95 Prozent aller getöteten Kinder wurden von ihren Eltern umgebracht – auch von ihrer Mutter. Bei denen allerdings hat nicht selten eine „postnatale psychische Störung“ zu der Kurzschlusshandlung geführt, die sie dann zeitlebens bereuen.
Hannsjörg Bachmann, Leiter der Bremer Kinderklinik Links der Weser, empfiehlt daher „Gewaltprävention ab der Nabelschnur“. Da er eine der Ursachen für destruktives Verhalten in einer gescheiterten Beziehung zwischen Kindern und Eltern sieht, regt er Standardkurse für den gelungenen Eltern-Kind-Kontakt an. „Mit der Gewaltprävention sollte so früh wie möglich begonnen werden“, heißt es auch im Fachblatt Kriminalistik. Schon im Vorschulalter, das hätten erfolgreiche Programme bewiesen, erzeuge „die Kombination frühkindlicher Erziehung mit Familienunterstützung lang andauernde starke Effekte für eine Verminderung aggressiven Verhaltens“.
Die Experimente waren dann am erfolgreichsten, wenn sie vor dem Teenageralter abgeschlossen waren. Die aggressive Haltung Erwachsener oder junger Erwachsener lässt sich dagegen nur noch schwer ändern. Besonders „schwierige Kinder“ – dazu gehören so genannte Schreikinder, aber auch Hyperaktive – laufen Gefahr, schon im Babyalter Opfer elterlicher Gewalt zu werden. Deshalb müssten Eltern, so Bachmann, auf Probleme vorbereitet werden, bevor sie auftreten. Denn nicht selten werden gerade aus den unbewussten kleinen Quälgeistern später aggressive und gewaltbereite Jugendliche und Erwachsene. Rund 95 Prozent der hyperaktiven Kinder mit „Zappelphilippsyndrom“ sind Jungen. US-amerikanische Psychiater konnten in einer Langzeitstudie zeigen, wie das gestörte Sozialverhalten nicht selten in eine kriminelle Karriere führt: Fast ein Viertel der Männer saßen siebzehn Jahre nach der ersten Erhebung im Knast oder hatten eine Haftstrafe verbüßt.
Dass längst nicht alle Zappelphilipps später zuschlagen oder straffällig werden, spricht wiederum deutlich gegen einen allzu engen Zusammenhang zwischen Biologie und Biografie. Neben der Prädisposition müssen andere Faktoren wirken. Mindestens ebenso wichtig dürfte sein, was Experten als „psychodynamischen Teufelskreis“ bezeichnen. Weil sie so schwierig sind, lösen manche der Betroffenen schon im Säuglingsalter heftige Aversionen in ihrer Umgebung aus, auch bei ihren Eltern. Erst das gegenseitige Aufschaukeln von Aktion und Reaktion, das sich in Kindergarten und Schule oft noch verstärkt, führt sie dann auf die schiefe Bahn. Sehr früh kann sich ein Lebensweg gabeln und in eine gewaltfreie oder gewalttätige Zukunft münden. Vielfach entscheidet sich die Richtung entlang der Grenze zwischen Zärtlichkeit und Züchtigung, Liebe und Ablehnung der Kleinen durch die Großen.
Besonders bei „schwierigen“ Söhnen und Töchtern erweist sich die Suche nach einem goldenen Mittelweg oft als Gratwanderung. So fatal sich physischer und auch psychischer Zwang auswirken kann, so falsch gerät mitunter eine Pädagogik des allzu laxen Laisser-faire. Experten sind sich einig: Kindern müssen Grenzen gesetzt werden. Daran haben auch alle Konzepte antiautoritärer Erziehung nichts geändert. Kinder wollen spüren, wie weit sie gehen können. Diese Erfahrung ist essenziell für ihre Entwicklung. Werden die Limits allerdings gewaltsam durchgesetzt, können die Kleinen dieses Muster in ihrem Verhaltensrepertoire speichern. Die Kombination „zu wenig Liebe, zu viele Hiebe“ lastet wie ein Fluch auf den Generationen und wird zur Spirale, die sich immer weiter in die Höhe schraubt.
Unter Eltern ließe sich leicht eine Mehrheit für die Meinung finden, Jungen und Mädchen suchten und fänden von sich aus ihre Geschlechterrolle. Viele Erziehungsberechtigte sind felsenfest davon überzeugt, dass sich kleine Jungen und Mädchen auch bar jeden elterlichen Einflusses vom Kleinkindalter an unbeirrt in Richtung Mann oder Frau entwickeln – als folgten sie einem angeborenen Entwicklungspfad. Von der Wahl des Spielzeugs bis zum Verhalten beim Lösen von Konflikten zeichne sich früh ein autonomer Weg zum Stereotyp ab. Diese Annahme, so populär sie auch ist, kann vor dem strengen Auge der Wissenschaft nicht bestehen. Wann immer Forscher Entwicklung und Erziehung begleitet und genau beobachtet haben, stießen sie auf das gleiche Muster: „Die Eltern unterschätzen ihren eigenen Einfluss, den sie unbewusst geltend machen“, sagt Ursula Staudinger von der Universität Dresden. „Ohne es zu wollen, verhalten sie sich Jungen und Mädchen gegenüber unterschiedlich“, sagt die Entwicklungspsychologin und führende Lebenslaufforscherin.
Selbst bei größtem Bemühen seitens ihrer Erzeuger, sie gleich zu behandeln, sähen sich die Kleinen praktisch vom ersten Tag ihres Lebens an mehr oder weniger in ihre Geschlechterrolle gelenkt. Die „Sozialisation“ zum Mann und zur Frau beginne bereits, bevor Kinder zu sprechen anfangen. Das reiche von der unterschiedlichen Tonlage, mit der Babys angesprochen werden, bis zur Art der Berührung des kindlichen Körpers. Jungen werden eher geknufft, Mädchen eher gestreichelt, und haben sie erst die Pubertät erreicht, behandeln Mütter und Väter sie bereits mehr oder weniger wie junge Männer und Frauen – wobei die Eltern freilich glauben, nur auf die ohnehin vorhandenen Unterschiede einzugehen.
In der Regel hat niemand Eltern beigebracht, wie sie ihren Nachwuchs erziehen sollen. Einziges Vorbild sind meist die eigenen Altvordern und deren Methoden der Erziehung. Es scheint schwierig bis unmöglich, sich den prägenden Erlebnissen seiner eigenen Jugend vollständig zu entziehen und sie nicht in gewisser Weise an die Nachfahren weiterzugeben. „Nach wie vor“, sagt Kriminologe Pfeiffer, „werden primär Jungen dazu angehalten, Tränen herunterzuschlucken, Gefühle zu unterdrücken und nach außen cool aufzutreten.“ Die Vermutung liege nahe, dass dies bei den Jungen dazu beiträgt, sich einen Panzer zuzulegen – nicht nur gegen die eigenen Gefühle, sondern auch gegen die Leiden anderer Menschen. Gewaltfreie und liebevolle Erziehung durch gleichrangige, konfliktfähige Eltern schaffe zusammen mit einer „Kultur der Anerkennung“ die besten Voraussetzungen für ein entsprechendes Leben nach dem Verlassen des Elternhauses – und zwar für beide Geschlechter.
Experten räumen zwar durchweg ein, dass sich Mädchen wie Jungen in ihrem Verhalten keinesfalls über einen Kamm scheren lassen. Dass Eltern es mit höchst unterschiedlichen – auch: angeborenen – Charakteren bei ihren Kindern zu tun haben. Millionen leidgeprüfter Mütter und Väter wissen, wie pflegeleicht der eine und wie schwer handhab- und kontrollierbar der andere Sprössling sein kann. Doch frühkindliches Verhalten steht bei richtiger Erziehung und Behandlung der Kleinen in keinem zwangsläufigen Zusammenhang zu späterer Gewaltbereitschaft – und auch nicht zur Tendenz zu maskuliner Dominanz.
Mädchen, sagt Psychologin Staudinger, seien zum Beispiel grundsätzlich nicht weniger aggressiv als Jungen. Schon sehr früh lernen sie allerdings, mit ihrer Aggressivität anders umzugehen – etwa mit Worten statt mit Fäusten. Dabei kommt ihnen auch zugute, dass sie die Jungen in der Sprachentwicklung abhängen und diesen in der Regel schon im Kindergartenalter sprachlich überlegen sind. Dadurch übertreffen sie, wenn Erziehung nicht gegensteuert, schon als kleine Kinder die Buben in gerade jener Fähigkeit, die gemeinhin zu den weiblichen Domänen gezählt wird: der zur Lösung von Konflikten durch Konversation. Würde genau diese „soziale Kompetenz“ auch bei kleinen Jungen konsequent gefördert, ließe sich das „Männerversagen“ deutlich eindämmen.
Die Münchner Pädagogin Edith Wölfl beschreibt in ihrem Buch „Gewaltbereite Jungen – was kann Erziehung leisten?“, wie kleine Knaben bereits im Kindergarten ihr Defizit an gewaltfreien Konfliktlösungsstrategien durch erlernte Aggression wettzumachen versuchen. „In der Regel lernen Jungen schlechter, Wut und Zorn verbal auszudrücken“, stellt Wölfl fest. Die erfahrene Hilflosigkeit und das Gefühl von Unterlegenheit kompensieren die kleinen Paschas, wie es ihnen der Papa (oder andere männliche Bezugspersonen) vorgemacht haben: Als Mittel gegen ihre Ohnmachtsgefühle demonstrieren sie körperlich männliche Dominanz.
Untersuchungen haben auch die Erfahrung bestätigt, dass Jungen von ihren Eltern sehr viel direkter zu Gewalt ermutigt werden als Mädchen. Söhne, so zeigen die Zahlen mit überwältigender Klarheit, sollen zurückschlagen, Töchter aber zurückweichen. „Bei Jungen, die bereits in der Kindheit Merkmale eines aggressiv antisozialen Entwicklungsverlaufs aufwiesen“, rechnet Wölfl vor, „ist das Risiko späterer Beziehungsgewalt verdoppelt bis verdreifacht.“ Gleichwohl seien nur bei einem Drittel der Männer, die in Beziehungen gewalttätig werden, schon in der Kindheit Warnzeichen zu erkennen. Prinzipiell alle Knaben müssten also als gefährdet angesehen werden. Deshalb müsse sich „die Arbeit mit Jungen“ auch an alle richten, nicht nur an bereits auffällig gewordene.
Konsequentes Training in den Familien, gerade auch in problematischen mit allein erziehendem Elternteil, im Kindergarten und in der Schule müsse sich aber an beide Geschlechter richten. Vor allem die Fähigkeit, Verschiedenheit zuzulassen, müsse gestärkt werden. Wenn auch Mädchen beigebracht wird, ihre Art von Überlegenheit zu erkennen und zu lernen, sie nicht gegen schwächere Jungen auszuspielen, könnten sie so ihren Teil zum Aufweichen der bedrohlichen Geschlechterdichotomie beitragen. Dazu bedürfe es allerdings eigens zu diesem Zweck ausgebildeter Erzieher. Die Autorin weist darauf hin, dass sechzig bis siebzig Prozent der Kinder „überhaupt nicht an Gewalttaten beteiligt“ sind, „und zwar weder als Täter noch als Opfer“. Gerade diese Gruppe, das hätten Untersuchungen gezeigt, könne wesentlich zur Verminderung von Gewalt an Schulen beitragen. Hinderlich sei allerdings, dass nach wie vor „das Gewaltproblem als ein Jungenproblem kaum entsprechend thematisiert“ werde.
Gemeinschaftliche Schulerziehung von Jungen und Mädchen, ursprünglich zum Überwinden von Ungleichbehandlung gedacht, habe sich als „zwiespältig“ erwiesen, glaubt Edith Wölfl. Koedukation „tradiert überkommene Geschlechterklischees“, statt sie aufzulösen. Auch im Lernbereich führt sie zu Benachteiligungen – für beide Geschlechter. Mädchen, die zusammen mit Jungen unterrichtet werden, zeigen zum Beispiel besonders in naturwissenschaftlichen Fächern ihre Fähigkeiten weniger, als wenn sie nur unter ihresgleichen lernen. Bei Jungen dagegen mit ihrer „außerordentlichen emotionalen Instabilität“ kann das Erlernen von „sozialem Wissen“ beeinträchtigt sein. Männlichkeit, wie sie dann bei einem gewaltbereiten Jugendlichen zu finden ist, „folgt nicht aus der Biologie seines männlichen Körpers oder Organismus, sondern ist das Ergebnis eines Sozialisationsprozesses. Aus dem vielfältigen Repertoire an Geschlechterbildern modelliert er sich einen gewalttätigen männlichen Androiden.“
Einen nicht geringen Teil an Vorbildern und Verhaltensmustern, glaubt Wölfl, beziehen Jungen und Männer aus den Medien. Die Frage allerdings, inwieweit Film und Videospiele, TV und PC mit ihren Rambos und Terminators aggressive Nachahmer erzeugen, ist nach wie vor umstritten – auch wenn eklatante Beispiele immer wieder eindeutig für die These zu sprechen scheinen. Der achtzehnjährige Eric Harris und der siebzehnjährige Dylan Klebold, die im April 1999 in der Columbine High School von Littleton im US-Bundesstaat Colorado 12 Mitschüler erschossen und 23 verletzten, bevor sie sich selbst richteten, waren bekannt als fanatische „Doom“-Spieler. Dieses Videospiel – doom bedeutet „Untergang“, aber auch „Todesurteil“ – verwendet das amerikanische Militär, um Soldaten das Töten beizubringen.
Der amerikanische Militärpsychologe Dave Grossman hatte jahrelang GIs mögliche Schuldgefühle durch das Erschießen von „Feinden“ auszutreiben versucht – bis ein Schulmassaker in seinem Heimatort Jonesboro im Bundesstaat Arkansas ihn aussteigen und zum vehementen Kritiker von Tötungsspielen für Kinder werden ließ. Grossman spricht von „Gehirnwäsche“ und weist auf den Lerneffekt von Videospielen hin: „Ein Vierzehnjähriger aus Kentucky, der auf dem Schulhof in Palucah Amok lief, hatte noch nie zuvor eine Pistole in der Hand. Er feuerte achtmal. Acht Schüsse, acht Treffer. Er traf fünf Mitschüler in den Kopf, drei in den Oberkörper.“
Der Zusammenhang mit der Simulation sei klar: „Bei den Spielen tauchen so viele Figuren gleichzeitig auf, dass man sehr schnell sein muss, um sie alle abzuschießen“, erklärt Grossman. „Bei den meisten Spielen gibt es einen Sonderbonus für Kopfschüsse.“ Um solche Taten verüben zu können, da ist er sicher, müsse der Akt regelrecht eingeübt werden.
Sozialwissenschaftler Otten glaubt, die Situation werde sich mit der Weiterentwicklung der Computertechnologie noch verschärfen. Wenn die Bilder immer realistischer würden, weil Foto und Comic sich einander weiter angleichen, „dann werden die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit für Millionen von Knaben vollends verwischt“. Je authentischer das Blut auf den Monitordarstellungen spritze, desto teilnahmsloser könne ein Gewalttäter echtes Blut eines tatsächlichen Opfers fließen lassen.
Eine direkte Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen vor- und ausgeführter Aggression hat sich gleichwohl bis heute nicht feststellen lassen – und das nach schätzungsweise fünftausend Studien zum Effekt von Gewalt in den Medien. Zwar lässt sich in Fällen wie dem des neunzehnjährigen Erfurter Massenmörders Robert Steinhäuser oder auch dem der Killer von Littleton annehmen, dass sie ihre Tötungsfantasien und ihr Vorgehen über Computerspiele oder Horrorvideos konkretisiert haben. Ob der teilweise exzessive Konsum einschlägiger Medienerzeugnisse und die aktiv aggressive Teilnahme an PC-Spielen allerdings eine Ursache oder gar die Hauptursache der Tat war, lässt sich bei verstorbenen Attentätern freilich nicht mehr direkt ermitteln – weshalb Christian Pfeiffer fordert, auch und gerade beim Wegfall strafrechtlicher Behandlung aufgrund des Todes der Schuldigen die Ursachen- und Motivforschung zu forcieren.
Andrerseits: Einen generellen Zusammenhang abzustreiten, sagt Jeffrey McIntyre von der amerikanischen Psychologenvereinigung, sei „wie gegen die Schwerkraft zu argumentieren“. Zumindest eine Art Dosis-Wirkungs-Beziehung glaubt sein Landsmann und Kollege Rowell Huesmann von der University of Michigan zu erkennen. Bei einem Hearing des US-Senats fasste er seine eigenen Forschungen folgendermaßen zusammen: „Etwa so, wie jede Zigarette die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass man eines Tages Lungenkrebs bekommt, steigert jede Situation, in der ein Kind der Gewalt ausgesetzt ist, das Risiko, dass es sich eines Tages gewalttätiger verhält, als es das sonst würde.“ Insofern muss der Medienkonsum zumindest als weiterer Risikofaktor ernst genommen werden.
Gegner der These beharren darauf, dass die dargestellte Gewalt, wenn auch oft zugespitzt, nur widerspiegle, was ohnehin gesellschaftliche Wirklichkeit sei. So wird die Frage zu einer Art Henne-Ei-Problem: Dienen marodierende Männer den Filmemachern als Vorbild oder eher die Kinoerlebnisse den Kerlen? Und könnte es nicht auch sein, dass sich ohnehin Gewaltbereite von vornherein zu den einschlägigen Filmen und Videos hingezogen fühlen? Zweierlei dürfte sicher sein: Die Filme und Spiele haben die männliche Gewaltbereitschaft gewiss nicht gesenkt. Aber auch ohne sie gäbe es das Problem Männergewalt.
Christian Pfeiffer wirft ein, der Effekt könne durchaus auch indirekt sein: Wo die Medien „suggestiv wirkende Identifikationsbilder für junge Männer schaffen“, ortet er eine „Diskrepanz zwischen den Männerträumen und der Wirklichkeit“. Dieter Otten glaubt: „Überall befinden sich traditionelle männliche Formen und Werte auf dem Rückzug.“ Die Folge: eine „Zunahme von amoralischen Verhaltensweisen bei Männern“, und zwar eine „erschreckende“. Ein Beleg für die moralische Differenz zwischen den Geschlechtern: Während Männer häufig als Mehrfachtäter auffallen, neigen Frauen weitaus seltener zu Rückfällen. Bei Männern bleibt eine Gefängnisstrafe, was die Besserung betrifft, in sehr viel mehr Fällen wirkungslos als bei Frauen, denen das Erlebnis einer Zeit hinter Gittern meist lebenslang als Lehre reicht. Bei Prozessen gegen braune Mörder zeigt sich immer wieder, wie weit der Verlust an ethischem Empfinden unter rechten Männerbündlern gehen kann. Selbst wenn sie feige aus der Gruppe heraus einen klar Unterlegenen gequält und getötet haben, haben sie kein Unrechtsbewusstsein – im Gegenteil. So wie sie sich selbst nicht mehr spüren, so lässt sie auch das Leiden anderer kalt.
Das Fehlen jeglicher Empathie, dieses völlige Versagen oder Verweigern von Einfühlungsvermögen, hat seine Ursprünge oft schon in den ersten Entgleisungen im Kindesalter. Es entwickelt sich weiter zur Skrupellosigkeit bei jugendlichen Schlägern und mündet schließlich in jene absolute Gefühlskälte, die pathologische Misshandler und Mörder an den Tag legen. Seelische Verkrüppelung kann aber auch im Zusammenhang ritualisierter Initiation innerhalb des Männerbundes entstehen. Wer dazugehören will, muss sich der hierarchischen Struktur vollends ausliefern – und kompensiert seine Unterwerfung durch kollektive Aggression. In der Gemeinschaft kann sich auch der Feigling als Held empfinden. So wird gewalttätiges Verhalten auch im fortgeschrittenen Alter „erlernt“.
Mit Programmen wie Antiaggressionstrainings zur „Deeskalation“ soll Tätern geholfen werden, ihre Gewaltbereitschaft wieder zu verlernen. Bei den Übungen müssen Jugendliche auf einem „heißen Stuhl“ Platz nehmen, sich provozieren und beschimpfen lassen und so ein Gefühl für die Ängste des Opfers entwickeln. Ziel ist es, die Frustrationstoleranz der jungen Männer so weit zu erhöhen, dass sie auf Angriffe friedlich reagieren lernen. Je älter die Teilnehmer sind, desto geringer sind allerdings die Erfolgsaussichten. „Mit dem achtzehnten Lebensjahr hat sich eine aggressive Haltung ausgebildet, die nur noch schwer zu ändern ist“, heißt es im Fachblatt Kriminalistik. In diesem Alter zeitigen auch Strafen allenfalls geringe Wirkung: Die Gefängnisse sind übervoll mit – männlichen – Wiederholungstätern. Sinnvoller wäre es, mit dem Training schon viel früher zu beginnen. So könnte etwa der Sportunterricht einmal im Monat darauf verwandt werden, Jungen mit den möglichen Folgen von Gewalt zu konfrontieren. Sie könnten üben, destruktive Impulse zu beherrschen, ihr Empathievermögen zu vergrößern und ihre sozialen Fähigkeiten zu entwickeln.
Je früher, desto erfolgreicher, glaubt auch der Pädagoge Frank Lohscheller, der seit acht Jahren an Schulen in Nordrhein-Westfalen jungenpädagogische Projekte anbietet: „Wenn man ihnen die Gelegenheit gibt, sich unter Anleitung untereinander auszutauschen, merkt man, dass sie eigentlich reden wollen.“ Viele der Jungen bringen nach Konflikt- und Kommunikationstrainings in speziellen Jungsgruppen bessere Leistungen, ihre Neigung zu Gewalt nimmt ab – und sie begegnen auch den Mädchen mit mehr Respekt.
Ob sich durch solche „Kompetenzvermittlungsprogramme“ aber Gewalttäter mit „antisozialer Persönlichkeitsstörung“ verhindern lassen, die als „Bestien“ zu trauriger Berühmtheit gelangen, ist fraglich. Doch gerade in diesem Bereich weist die Statistik die positivste Entwicklung auf. Obwohl die mediale Wirklichkeit das Gegenteil vermuten lässt – die Zahl der Sexualmorde ist in den vergangenen fünfzehn Jahren auf ein Viertel zurückgegangen. Wenn es auch dafür wieder etliche Erklärungsversuche gibt – niemand kann letztlich genau sagen, warum das so ist.
Dieter Otten: MännerVersagen. Über das Verhältnis der Geschlechter im 21. Jahrhundert, Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2000, 384 Seiten, 18 Euro Alice Schwarzer: Der große Unterschied. Gegen die Spaltung von Menschen in Männer und Frauen, Fischer Taschenbuch Verlag, 297 Seiten, 9,90 Euro Edith Wölfl: Gewaltbereite Jungen – was kann Erziehung leisten? Anregungen für eine gender-orientierte Pädagogik. Ernst Reinhardt Verlag, München, Basel 2001, 237 Seiten, 19,90 Euro JÜRGEN NEFFE, 46, promovierter Biochemiker und langjähriger „Spiegel“-Autor, leitet seit kurzem das Berliner Büro der Max-Planck-Gesellschaft