: Weich wie Marshmellows
Christa Jöhlinger flechtet Binsen wie andere Kuchen backen: Mit Gefühl und Liebe. Bevor sie dieses Handwerk entdeckte, war sie Feingeräteelektronikerin, nebenher lernt sie Finanzbuchhaltung
Christa Jöhlinger bewegt sich auf einem Gebiet, das der Volksmund vermint hat: Als Binsenflechterin betreibt sie ein kleines Atelier in einem Ritterhuder Bauernhaus. „Binsenweisheiten“ heißt ihre Werkstatt – nach diesen Sprüchen, von denen die Welt verschont werden will, genauso wie von Dingen, die „in die Binsen gehen“. Kurzum: Das Positivste in diesem Metier dürfte Christa Jöhlinger selbst sein.
46 Jahre, rund gebaut, mit tiefen Lachfalten und Grübchen, begegnet Jöhlinger der Binse liebevoll. Sie wählt sie sorgfältig aus, feuchtet sie vorsichtig, dreht sie achtsam, versteckt ihre kleinen Schwächen im Halm durch einen gekonnten Griff und dreht, windet und streicht das schmale Gebinde aus Gräsern, bis am Ende ein strammer Sitz aus Binsen entsteht. Symmetrisch geflochten. Ihr ganzer Stolz.
Als Handarbeit hat sowas heute seinen Preis. „Ein Groschen pro Quadratzentimeter“ lautet die Regel, die Jöhlinger traditionell zu Grunde legt, wenn sie für den Kostenvoranschlag den Taschenrechner anwirft. 70 Euro kann ein Sitz da schon kosten. Und manchen ist es das wert. Früher war das anders – da gab, wer konnte, viel Geld aus, um bloß nicht auf Binsen zu sitzen. Vom traditionellen Finckenwerder Hochzeitsstuhl aus dem Elbe-Raum beispielsweise weiß man: „Die Reichen ließen sie mit Holzsitz anfertigen. Die Binse war als arme-Leute-Material verschrien.“ Die Flechterin schüttelt ungläubig den Kopf – wo die Binse doch so schön wärmt und auch so weich ist. Beim Verarbeiten sogar so weich wie Marshmellows – mit einem zimtigen Geruch irgendwo zwischen Holz und Stroh.
Die ganze Werkstatt duftet danach, obwohl Jöhlingers Binsenvorrat langsam schmilzt. Mit Binsen ist es wie mit Heidehonig. Irgendwann ist Schluss. Dann hilft nur noch warten auf die nächste Ernte – im August. Was sie braucht, wird Jöhlinger dann von einem Binsenbauern holen, der das Gras bis heute an der Elbe schneidet und von dort ins ganze Bundesgebiet liefert.
Knapp zwei Zentner wird die Kunsthandwerkerin in diesem Jahr wohl holen. „Nicht viel“, räumt sie ein. Aber mehr als zwei Tage pro Woche flechtet sie nicht. „Unter Existenzdruck kriege ich Sehnenscheidenentzündung.“ Gerade hat Christa Jöhlinger eine Fortbildung zur Finanzbuchhalterin beendet – als „zweites Standbein neben der Binse“. Es ist nicht ihre erste Ausbildung – aber ihre aktuellste. Denn das Binsenflechten hat Jöhlinger sich neben ihrem 40-Stunden-Job als Feingeräteelektronikerin nur kurz abschauen können. Dann erlag der alte Korbflechtermeister, der sie ein Werkstück hatte anfertigen lassen, einem Herzinfarkt. Gut, dass er seiner Frau noch gesagt hatte: „Um die Jöhlinger brauche ich mich nicht sorgen, die kann das.“ 40 Jahre war die Nachwuchsflechterin da. Bis heute ist sie dem Meister dankbar, dass er nicht an ihrer Fingerfertigkeit zweifelte. Das gab ihr den Mut zu tun, wovon ihr eigentlich alle abgeraten hatten: Binsen flechten. ede
Atelier „Binsenweisheiten, Ritterhude 04292-2385
Am Samstag, 10. Mai, flechtet Christa Jöhlinger ab 10 Uhr, anlässlich der Eröffnung der Polsterwerkstatt Reinhard Krämer in der Graf-Moltke-Str. 44