: Die Höhle der geschäftstüchtigen Löwinnen
Warum die Zapoteken-Frauen am Isthmus von Tehuantepec so stark sind, liegt im Dunkeln. Fest steht: Der Isthmus war dank seiner geografisch günstigen Lage schon immer ein wichtiger Umschlagplatz für Waren und Güter. Und bereits seit Jahrhunderten ist der Handel hier Frauensache
von NICOLE SCHMIDT
Rosario hat schon so einiges gehört von Juchitán. Die Frauen sollen dort stark sein, mächtig und trinkfreudig. Den Männern setzen sie Hörner auf, erzählt man sich in Rosarios Heimat Oaxaca, ein paar hundert Kilometer entfernt. Stell dir vor, das einem Mexikaner! Und wehe, den Juchitecas passt etwas nicht. Wenn Händler sich von außen in ihre Geschäfte mischen wollen, verhindern sie das mit Straßensperren. Dios! In diese Höhle von Löwinnen will ihn sein Chef zum Arbeiten schicken! Und dann laufen auf den Straßen auch noch Männer in Mini und Stöckelschuhen herum! Da fällt ihm eine entfernte Verwandte in Juchitán ein. Richtig, sie hieß Pati. Die könnte er doch anrufen. „Wie es in der Stadt zugeht?“, kichert die am anderen Ende der Leitung. „Hast du Lust auf Leben? Trinkst du gerne? Isst du gerne? Feierst du gerne? Dann bist du hier richtig. Komm doch einfach am Samstag zur Hochzeit im siebten Bezirk. Ich lade dich ein.“
Kaum ein Tag vergeht in Juchitán, ohne dass sich der Norte herumtreibt in dieser Stadt im Süden Mexikos, an der Landenge zwischen Pazifik und Atlantik gelegen. Dieser Wind bläst mächtig in dem tropisch-heißen Ort. Er umfächelt weder Touristen noch koloniale Prachtbauten oder Herrschaftshäuser. Der Norte fegt über den aufgeheizten grauen Asphalt, über festgetretenen Sand und Schotter. Wirbelt Müll auf. Spielt mit Millionen weggeworfener Plastiktüten, die wie Obst an dürren Ästen hängen. Sträubt den streunenden Hunden das Fell. Nagt am Putz der schmucklosen Steinhäuser. Wispert in ihren Innenhöfen mit den Bougainvilleen, Bananenstauden und Hängematten. Verfängt sich in den Baumkronen auf dem zentralen Platz, gesäumt von Rathaus und schattigen Arkaden. Streicht lauernd um den ausladenden Markt: das Herz von Juchitán. Doch in diesem dämmrigen Labyrinth auf zwei Etagen weht ein anderer Wind. Die Herrinnen des Markts fächeln selber.
Markt der Lebensfreude: „Nimm mein Mädchen, Süßes aus der Tamarinde, ein Genuss!“, „Gürteltierbraten, ganz frisch!“, „Leguansuppe, die solltest du probieren!“, gurrt es aus allen Ecken. Formvollendet stapeln sich Pyramiden aus Zucchini und Zuckerrohr, Ananas und Avocados. Fleisch bergeweise. „Schildkröteneier, für dich und deinen Mann, ihr werdet staunen!“, lockt eine Schöne. Ach so, ein reiferes Paar. Dann lieber Tomaten. Lachen aus voller Kehle. Schlüpfrigkeiten zwischen Witz und Wahrheit fliegen hin und her. Vom Liebhaber, der mal wieder mies drauf war. Der praktische Rat: Einfach mal nichts zu essen geben und zur Mama schicken. Von den Geschmacksrichtungen des Penis: der des Bauern schmeckt so süss. Und der des Fischers salzig.
Da klopft sich auch die Hühnchenverkäuferin Asunción auf die Schenkel und lässt beinahe ihre Stickarbeit fallen. Die letzte rosarote Blume auf ihrer Samtbluse. Die will sie anziehen zur Hochzeit am Samstag. Eine Kundin, verwandt mit der Braut, hat eingeladen. Bevor sie ihren Stand dichtmacht für heute, tauscht Asunción noch schnell wie alle hier das Abendessen zusammen: Hühnchen gegen Fisch, Chili gegen süßes Brot.
In Juchitán muss keiner hungern – wahrlich etwas Besonderes in diesem armen, krisengeschüttelten Land. Das liegt in erster Linie an den Frauen. Sie sorgen dafür, dass die Kochtöpfe immer gefüllt werden können. Sie verwalten die Finanzen und gewähren den Männern ein paar Pesos Taschengeld. Den Frauen gehören die Häuser, die sie an die Töchter vererben. Sie haben ihr eigenes Einkommen: Sie verkaufen, was die Männer herstellen. Hängematten, Tonwaren, Schmuck. Sie vermarkten und verarbeiten die Früchte des Meeres und des Ackers. Sie reisen damit über Land, bis zu tausend Kilometern weit. Bis sich die Geschäfte lohnen.
Warum die Zapoteken-Frauen am Isthmus von Tehuantepec so stark sind, liegt im Dunkeln. Genauso wie die Herkunft des Volkes, das als widerständig und eigenwillig gilt. Fest steht: Der Isthmus war dank seiner geografisch günstigen Lage schon immer ein wichtiger Umschlagplatz für Waren und Güter. Und seit Jahrhunderten ist der Handel Frauensache.
Mannshoch stapeln sich Kisten mit Fisch auf dem riesigen Hof Gudelias ein paar Straßen weiter in der Séptima. Die runde Frau öffnet ein kühles Bier und ruft ihren Söhnen Anweisungen zu. Eine Stimme, die gewohnt ist, zu befehlen. Hier passen noch ein paar rein, die Kleinen und Großen müsst ihr trennen. Sie bückt und streckt sich behände, greift nach den glitischigen Leibern. Sonst lässt sie die Männer diese Arbeit tun. Aber heute hat Gudelia es eilig. Will mit ihrem Laster nach Mexiko-Stadt aufbrechen. Zwölf Stunden über Nacht. Die Geschäfte laufen gut. Ihr Haus ist eines der stattlichsten im Viertel, mit zwei Stockwerken und schmiedeeisernen Verzierungen.
Als Gudelia nach dem Tod ihres Mannes mit dem Handel anfing, hatte sie nichts als ihre zwei Söhne. Da war sie neunzehn, konnte weder lesen noch schreiben. Fünf Kinder zog sie schließlich allein groß. Ein Mädchen hat sie angenommen, zwei sind von ihrem Gefährten und Geschäftspartner, der in der Hauptstadt lebt. Eine lockere Geschichte. Heiraten? Niemals! Das hieße ja, über sich und ihre Kinder bestimmen lassen. Aber natürlich besucht Gudelia ihn auch diesmal. Ein paar Stunden wenigstens. Zur Hochzeit am Samstag will sie auf jeden Fall zurück sein. Sie wird einen Sack Garnelen und eine großzügige Geldspende mitbringen. Das ist ihr eine Ehre und eine Pflicht. An Ansehen gewinnt in Juchitán, wer viel gibt.
Nun liegt die 100.000-Einwohner-Stadt Juchitán nicht hinter den sieben Bergen, sondern am panamerikanischen Highway, der Nord- und Südamerika verbindet. Es gibt Coca-Cola, Tampons, eine Fachhochschule und inzwischen auch Geldanlageberater. Die Männer sind nicht mehr nur Bauern, Fischer und Handwerker. Viele arbeiten in Banken und Versicherungen, in den nahen Ölraffinerien, sind arbeitslos, trinken. Das Fernsehen vermittelt täglich Bilder von der glücklichen Hausfrau in der Einbauküche, die sich nur um die Familie sorgt. Umso erstaunlicher, dass dieses fein gesponnene Frauennetzwerk von Verpflichtung und Gegenverpflichtung immer noch funktioniert.
Die Vorbereitungen für die Hochzeit sind zwei Tage später auf dem Höhepunkt. Amalia setzt zu Hause die Wimpernzange an. Frisch rasiert, die schulterlangen Haare zurückgebunden, sitzt der Mann mit übereinander geschlagenen Beinen vor dem kleinen Frisiertisch. Ein ganz zarter Mann mit gerundeten Formen, in ärmellosem T-Shirt und kurzer Hose.
Im Innern fühlt sich Amalia schon lange als Frau. Wenn sie ausgeht, brezelt sie sich gern auf. Das kleine Schwarze mit den Spagettiträgern und die Pantoletten hat sie schon mal bereitgelegt. Mit zärtlichem Blick schaut ihr die alte Mutter beim Schminken zu, wie sie mit Make-up das Gesicht noch weicher zeichnet, mit Rouge die hohen Wangenknochen betont. Muy mona, sagt die Mutter. Du siehst hinreißend aus. Sie hat akzeptiert, dass ihr Sohn ein Musche ist: das dritte Geschlecht in Juchitán. Es gibt Musches, die mit Frauen zusammenleben und Kinder haben, andere bleiben bei ihrer Mutter, suchen schwule Abenteuer oder feste Freunde.
Die Straße vor dem Haus der Braut ist bereits zum Hochzeitssaal umgebaut. Ab sofort gesperrt für Autos. Eine dicke Plastikplane dient als Dach, gehalten von einem Gestänge. Zu hunderten stapeln sich die Plastikstühle. Ein Laster karrt Matratzen an, eine Kühltruhe, Schränke, Tische, Stühle: die Einrichtung als Geschenke. Immer mehr Frauen strömen in den Hof und packen mit an. Holzfeuer flackern. Darauf brodelt es in Töpfen von enormem Ausmaß. Eine Nachbarin schleppt vierzig lebende Hühner in Käfigen und jede Menge Chili an. Wenn sie zum Fest lädt, erhält sie von der Familie der Braut ihre Mitbringsel zurück. Jede Gabe verlangt eine Gegengabe. Jede Hilfe ist gegenseitig. Aus Bottichen klauben flinke Hände lindgrüne Pastetenmasse aus Hühnerfleisch, Maismehl und Kräutern, umwickeln sie mit Maisblättern. Eine Köchin rührt seit Stunden in einer Zinkbadewanne die schwarze Mole, eine süß-scharfe Festtagssoße aus zwanzig Zutaten: Schokolade und Mandeln, Avocado und Tomaten, Knoblauch und Chili … Sie waschen, würzen, kneten, schuppen, legen Holz nach. Jeder Handgriff hundertmal geübt. Keine Spur von Hektik.
Der Truthahn im Hof des Bräutigams rennt noch um sein Leben. Die Männer vor der Tür flechten Kränze aus frischem Grün, Rosen und Hibiskusblüten. Haarschmuck für die Köchinnen. Die bringen den Helferinnen und Patinnen ein üppiges Frühstück ins Haus. Die Patinnen sind keine Verwandten, sondern übernehmen ein Amt, das mit Kosten und Organisieren verbunden ist. Sie haben dafür zu sorgen, dass alles klappt mit den Gastgeschenken. Die eine steuert Geld für die Musik bei, die andere für den Kuchen, die dritte für die Dekoration, So können es sich auch ärmere Leute leisten, ein Fest auszurichten. Die Kosten werden auf mehrere Schultern verteilt. Und die Patinnen wissen wiederum genau, dass auch sie irgendwann unterstützt werden.
Pati ist Patin des Biers und will ganz besonders hübsch aussehen. Denn die Patinnen werden während des Fests per Mikrofon mit großem Tamtam gewürdigt. Jetzt hat sie erst mal keine Zeit für Pedro, der inzwischen eingetroffen ist. Soll es nun der orangefarbene Rock sein, dazu die dunkelblaue Bluse mit gelben, maschinegenähten Ziernähten? Oder der bunt gemusterte Rock mit dem schwarzen Samtoberteil, reich bestickt mit knalligen Fantasieblumen?
Ihre Mutter kann nicht verstehen, dass Pati herumläuft wie ein Paradiesvogel. Und überhaupt dieses andere Leben gut findet. Sie wohnt seit dem Tod ihres Mannes wieder in ihrer Heimatstadt Mexiko-Stadt. Pati kam zuerst mit. Aber sie hat es nicht ausgehalten. Sie wollte Verantwortung. So kam die Tochter allein zurück, um den Tortilleriabetrieb und die Mühle ihres Vaters zu übernehmen, mit 22 Jahren. Jahrelang stand sie morgens um halb fünf auf, nahm die noch warmen Maisfladen aus der Maschine und verkaufte sie. Inzwischen ist sie 38, hat drei Läden, mehrere Angestellte, eine Haushälterin und eine weiße Strähne im Haar. Kaum eine stellt noch Tortillas von Hand zum Verkaufen her und billiger gelber Mais drückt aus den USA herein. Pati setzte mit Erfolg auf weiße Qualität. Jetzt hat sie für sich genug erreicht.
Herzzerreißende Töne künden die Ankunft des Brautpaars an. Trommler und Trompeter in Turnschuhen marschieren vorneweg. Die frisch Getrauten hinterher. Vor dem Haus angekommen, nimmt die Braut in kostbarem Weiß im erhöhten Plastikstuhl am einen Ende des Geschehens Platz. Der Bräutigam im gedeckten Angestelltenanzug setzt sich ans andere Ende. Die Gäste kommen pulkweise. Pedro liefert wie jeder Mann einen Karton Bier ab und entschwindet in die für Männer bestimmt Ecke. Macht Platz für die Frauen! Wie sie sich ausstaffiert haben! Alle sind sie da: die Hühnchenverkäuferin Asunción, mit Goldketten behängt, die Lippen glühend rot. Die Garnelenhändlerin Gudelia in Samt, mit überbordender Stickerei und taufrischem Hibiskus im Haar. Und Musche Amalia, die Schöne der Nacht. Und die anderen Musches, die zwischen ihren Müttern und Kusinen giggeln. In geschlitzten, hautengen Kleidern, mit bauchfreiem Spitzenblüschen und Caprihose, in trägerlosem Top und Wickelröckchen.
Die Band spielt die ersten Takte, und wie auf Aufforderung fangen die alten Frauen mit ernster Miene an, eine Art Menuett zu tanzen, heben anmutig ihre Oberröcke und setzen ihre Fußspitzen in den Schotter. Jede für sich und doch harmonisch miteinander. Danach erst einmal vier Bier aus der Flasche. Je mehr Corona fließt, desto lockerer wird die Stimmung. Die Frauen drücken ihr Bäuche im Paartanz aneinander, hüpfen im Kreis, holen eine in die Mitte, keine der Jüngsten. Die schüttelt ihre breiten Schultern, ihre drallen Hüften wogen im Rhythmus, und ihre Blicke sind Anmache pur.
Nur ein paar Männer mischen sich unter die Frauen. Rosario ist auch darunter, fordert Pati auf. Irgendwann in der Nacht sind alle Biere ausgetrunken, die Tänzerinnen müde. „Weißt du was?“, sagt Pedro. „Ich nehme den Job an.“