: Amerikas ideologische Punks
Der Ton der US-Polemik gegen das „alte“ Europa beweist vor allem den Verfall der politischen Kultur. Schade, das Europas Konservative dem nichts entgegensetzen
Die höhnischen, oft geschmacklosen Attacken einiger amerikanischer Unilateralisten und Bush-Anhänger zielen nicht nur auf die widerspenstigen Europäer. Auch einheimische Kritiker des Präsidenten, die öffentlich immer mehr Gehör finden, werden derart beschimpft. Zwar sinkt keineswegs unsere gesamte politische Debatte auf ein Rinnsteinniveau herab, aber es wird auch selten übertroffen.
Historisch gesehen kann man sagen: Die Vereinigten Staaten haben sich zwar nicht gerade oft gegenüber ihren Gegnern zurückgehalten oder sich in übermäßiger Bescheidenheit geübt, was ihre Ansprüche angeht. Trotzdem haben sich die meisten US-Außenminister – von den Ahnen der amerikanischen Diplomatie bis hin zu Colin Powell – bemüht, sich gegenüber Ausländern und speziell Europäern wie Gentlemen zu benehmen.
Die meisten Politiker, die jetzt Europa verdammen, gehören nicht zur ersten Reihe; niemand wird das Kongressmitglied Lantos mit dem alten Senator Fulbright verwechseln. Aufrufe zum Boykott europäischer Waren kommen von Abgeordneten, die niemand der Fähigkeit verdächtigt, besonders gut mit komplexen Zusammenhängen umgehen zu können. Auch die Publizisten und Gelehrten, die sich derart äußern, werden wohl vergessen sein, wenn die intellektuelle Geschichte unserer Epoche geschrieben wird. Sie handeln mit gebrauchten Ideen. Dr. Wolfowitz hat vielleicht Carl Schmitt gelesen, Richard Perle hat Oakeshotts Vorlesungen am LSE gehört; die Gedanken ihrer Gefolgsleute eigenen sich gerade mal als Aufkleber für den Kofferraumdeckel.
Warum also diese Angriffe auf die Standards der zivilisierten Auseinandersetzung? Es wäre beruhigend, wenn man sie als Zufälle abtun könnte. Aber die Zunahme der Spannungen zwischen Europa und den USA hat dazu geführt, dass Menschen in Positionen gekommen sind, in denen es sich normalerweise nicht gehört, ihre schlechten (oder auch nicht vorhandenen) Manieren öffentlich zur Schau stellen. Innerlich sind diese Leute überrascht davon, dass ihr unerbittlicher Karrierismus sie überhaupt so weit gebracht hat. Nun bleibt ihnen nicht viel mehr übrig, als mit denselben Methoden weiterzumachen wie bisher: mit aggressivem Drängeln und lautem Gebrüll. Längerfristig werden sie merken, dass für ihren Job ein gutes Erscheinungsbild notwendig ist. Die jetzige Episode wird dann nur das sein: eine Episode. Aber erst dann.
Die Zeitungen und Fernsehstationen, die sich derweil auf die wahnhafte Denunziation der Europäer spezialisiert haben, gehören übrigens einem Einwanderer aus Australien, Mr. Murdoch, der bei allem Respekt zumindest bisher nicht unser kulturelles Niveau erreicht hat. Dessen Kampagnen verdecken, dass es um Grundsätzliches geht. Das amerikanische Weltreich verlässt sich nämlich auf eine napoleonische Maxime: Les carrières ouvertes aux talents. Der leistungsorientierte Zugang zu den Eliteuniversitäten hat dort den Konkurrenzkampf erheblich verstärkt. Aber auch Ausbildungseinrichtungen von Regierung und Militär bieten Aufstiegsmöglichkeiten. Der Multikulturalismus, den sowohl Wirtschaft als auch Politik an dieser Stelle pflegen, hat einen ganz offensichtlichen Grund: Man verringert das Gefühl ethnisch-rassischer Ungerechtigkeit, indem man Leute in die oberen und mittleren Ränge einer Klassengesellschaft aufsteigen lässt, die sonst Gegner werden könnten.
Das US-Empire ist eine gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Regierungsstellen, die Außenpolitik organisieren, Kongressbüros, politische Beratungsinstitute und Hochschulen für internationale Beziehungen scheinen vom Einstellungsstopp ausgenommen. Im privaten Sektor suchen Finanzwesen und Industrie internationale Beratung. Dasselbe gilt für die Anwaltskanzleien. Dank dieser Beratungsmaschine kann jeder im Fernsehen große Reden über die Welt halten, ohne sich auszukennen. Daher gibt es wohl auch immer genug Jobs für die, die bereit sind, sich politisch anzupassen. Natürlich gibt es in diesem Sektor auch eine ganze Menge echter Kompetenz und Leute, die wirklich Talent haben. Aber dieser große und stark segmentierte Marktplatz bietet auch viel Raum für Mittelmaß und Käuflichkeit.
Vielen der gerade erst aufgestiegenen Frauen und Männer, die sich heute mit Außenpolitik beschäftigen, fehlen die ererbte Nachdenklichkeit und Beherrschung, die früher einmal mit den Traditionen den Vereinigten Staaten von Amerika assoziiert wurden. Dass die Neulinge oft etwas einfach gestrickt sind, ist auch ein Vorteil: Schließlich sollen sie hohe Politik Leuten gegenüber rechtfertigen, die niemals Admiral Mahan, Frederick Jackson Turner oder die Zeitung The Federalist gelesen haben. Trotzdem fällt auf, dass viele der lautesten Antieuropäer keine familiären Verbindungen zur US-Vergangenheit haben. Die Vehemenz, mit der sie Mythen mit nationalem Gebrauchswert liefern, soll das ausgleichen.
Europäische Konservative behaupten, sie würden die Last von Erinnerung und Verantwortung verstehen, die die Amerikaner tragen. Nur haben ihre US-Pendants nie triumphalistische Schlüsse aus unseren historischen Erfahrungen gezogen. Trotzdem behaupten viele europäische Konservative, dass sie mit einem Präsidenten seelenverwandt seien, der das Erbe der amerikanischen Patrizier genauso geringschätzt und ablehnt wie deren gebildeten Skeptizismus. Es fällt überaus schwer, sich George W. Bush in der Kubakrise vorzustellen, in der er sich wie John F. Kennedy bemühen müsste, einen Atomkrieg zu verhindern. Als Frau Merkel hier war um Treue zu geloben, hat sie alle jüdischen Organisationen besucht. Diese konnten gar nicht aufhören, die Bereitschaft der CDU-Chefin zur Unterstützung eines Krieges gegen Irak zu loben. Die katholischen und protestantischen Kirchen, die diesen Krieg ablehnen, besucht Frau Merkel dagegen nicht.
Sind das sozialdemokratische Arbeiterkind Gerhard Schröder, der gaullistische Provinzpolitiker Jacques Chirac und der katholische Stipendiat Karol Wojtyła aus Krakau die letzten echten Konservativen des Kontinents? Vielleicht nicht, aber es ist schon grotesk, dass viele Konservative dulden, dass ein paar ideologische Punks aus Amerika ihre Vergangenheit verunglimpfen.
PS: Selbstverständlich gibt es auch in Europa Parvenüs, die sich als ergebenste Diener der USA gerieren. Man denke nur an Silvio Berlusconi, der sich nach jedem gütigem Wort seines Herrn im Weißen Haus so freut, wie es nur ein geborener Untertan kann. Oder an die proamerikanischen „Politiker“ und „Experten“ in Europa. Diese werden nicht durch Aufenthalte in Harvard und Stanford motiviert, auch nicht durch Artikel in US-Zeitungen und auch nicht durch Empfänge in Washingtoner Ministerien. Vielmehr motiviert diese Menschen, die nicht mal alle mittelmäßig sind, etwas anderes: die Nähe zur Macht. Stalin war eben nicht der einzige Große Bruder. NORMAN BIRNBAUM
(Übersetzung: Rüdiger Rossig)