Family Affairs

Den „Followers“, hartgesottenen Fans von New Model Army und deren Frontmann Justin Sullivan, ist kein Weg zu weit – auch nicht nach Bremen

Dave, seit 16 Jahren Follower: „Ich weiß nur eins: Es hört nie auf!“

Trotz seines bevorstehenden Australien-Urlaubs legt sich Lars’ Stirn in tiefe Sorgenfalten, als er seine Reisepläne für die nächsten zwölf Monate rekapituliert.

„Ich kann von dieser Tour leider nur vier Konzerte mitnehmen, Mitte nächster Woche sitz’ ich im Flieger“, seufzt er. „Aber zu den Weihnachtskonzerten von New Model Army in Köln komme ich für ein paar Tage wieder zurück. Ich lege mir extra 1.000 Euro zurück, um den Urlaub zu unterbrechen.“

Der 31-Jährige hat am Nachmittag 350 km zurückgelegt, um sich im Bremer Tower ein Konzert von Justin Sullivan anzusehen. Sullivan ist der Sänger und Gitarrist der britischen Indie-Rockband New Model Army und zurzeit auf Solo-Tournee. Lars ist ein Army-Follower – und mal wieder mit der ganzen Familie unterwegs.

Seine Familie, das sind die anderen Followers: ein europaweites Netzwerk aus eingefleischten Fans, die weder Kosten noch Mühen scheuen, um möglichst jedes Konzert von Justin Sullivan oder New Model Army mitzuerleben.

„Was uns verbindet, ist echte Freundschaft“, erklärt Lars. „Man kann über alles reden, man ist füreinander da, nicht nur, wenn man sich auf den Konzerten sieht. Wir kennen durch die Fahrerei ja alle keinen Schmerz mehr, da fährt man halt auch mal für einen Abend spontan drei Stunden nach Amsterdam, um andere Follower zu besuchen. Solch einen Fan-Zusammenhalt gibt es bei keiner anderen Band.“

„Die Gemeinschaft der Followers ist wirklich wie eine Familie“, findet auch Dave. „Wir haben dieselben Vorstellungen vom Leben, von der Liebe, es herrscht ein völliges gegenseitiges Vertrauen. Leute, die du noch nie gesehen hast, lassen dich in ihrer Wohnung übernachten.“ Der gebürtige Waliser, seit 16 Jahren Follower, hat letztes Jahr 30 Konzerte in ganz Europa besucht und nur einmal im Hotel geschlafen.

An diesem Abend hat sich etwa ein gutes Dutzend Familienmitglieder im Tower eingefunden, wie die Webdesignerin Dagmar (30) schätzt, darunter ihr Kumpel Shane aus Irland, der extra für sechs Konzerte aufs Festland geflogen ist, weil er keine Lust hatte, bis zur Irland-Tour im Mai zu warten. Dagmar selbst war vorgestern in Rotterdam, gestern in Düsseldorf und ist heute mit Lars und einigen anderen Kölnern nach Bremen gereist – allerdings im eigenen Auto. „Ich kann nur die nächsten Konzerte in Bielefeld, Hamburg, Berlin und Hannover mitnehmen und muss dann wieder zurück“, erklärt sie. „Die anderen wollen dann noch weiter Richtung Süden.“

Aber „falls Spanien akut wird“ und Justin dort noch ein paar Gigs dran hängt, überlegt sie sich, dorthin zu fliegen, als Urlaubsreise quasi.

Warum nun ausgerechnet New Model Army diese Leidenschaft schüren, weiß keiner so genau. „Ich weiß nur eines: Es hört nie auf“, lacht Dave. „Viele steigen eine Weile aus, wenn sie Kinder bekommen, und sind dann Jahre später wieder dabei – mit den Kids. Denn die gehören zu einer Familie nun mal dazu.“

Die Strapazen der langen Reisen sind den Followers egal – und auch Justin Sullivan und seine beiden Army-Kollegen, die ihn begleiten, schenken sich nichts. Sie reißen die dreimonatige Tour komplett im Wohnmobil herunter – Italien, Polen, Baltikum, Skandinavien, alles ohne zwischendurch ein Hotelbett zu sehen.

Der heutige Gig im Tower ist aber erst das dritte Konzert der Tour – von Tour-Koller und Burn-out-Syndrom keine Spur, als der Meister feierlich im dunklen Anzug allein die Bühne betritt.

Schlagartig verstummen die Gespräche, alle Blicken heften sich gebannt an die hagere Gestalt, die sich eine Westerngitarre schnappt und leise die ersten Akkorde von „Changing Light“ anschlägt. Die stechenden, schwarzen Augen in die Ferne gerichtet, jeden Muskel angespannt, spielt sich der charismatische Frontman allmählich in Ekstase.

Es herrscht eine fast sakrale Atmosphäre in dem überfüllten Club, selbst das Gemurmel von der Theke ist verstummt. Wie angewurzelt steht die Menge da, nur vereinzelt nickt einer kaum merklich im Takt mit dem Kopf. In der Stille flüstert Lars fast lautlos die Texte mit, alles andere wäre wahrscheinlich Blasphemie. Nur Justins ironische Ansagen reißen die Menge kurz aus ihrer Andacht.

Ob es stimmt, dass sich die Menschheit wieder zu Nomaden entwickelt, wie der Architekt Martin Pawley meint? Und ob Novalis an ein Phänomen wie die Followers dachte, als er schrieb, wir gingen „immer nach Hause“, also gewissermaßen in den Kreis der Familie?

Bielefeld, Helsinki, vielleicht Barcelona – als sich Sullivan nach 90 Minuten mit einem „See you soon!“ verabschiedet, wissen einige im Saal genau, wer gemeint ist.

Till Stoppenhagen