: berliner szenen Atavismus
Die Zeit verrinnt
Zwischen Bushaltestelle und Kiosk steht seit den Siebzigerjahren eine Filiale des Arbeitsamtes. Vorher, als es noch Arbeitsplätze gab, stand dort eine Brauerei. Noch viel früher eine Pulverfabrik. Tja, die Zeit verrinnt unaufhaltsam, ganz so wie das importierte Dosenbier, das die rotgesichtigen Trinker am Kiosk tagein, tagaus in sich hineinschütten. Die einzige Buslinie, die hier noch hält, fährt in Richtung Friedhof. Allerdings auch zurück, übers Arbeitsamt in Richtung Bahnhof.
Vielleicht gibt es ja noch Hoffnung. Aber ich bin jetzt auch schon 33. Ich nehme täglich den Bus in Richtung Bahnhof. Zurück laufe ich – das hält fit. Wahrscheinlich brauche ich in Zukunft noch zusätzlich ’ne Age-Control-Creme. Neulich im Zug sprach mich eine junge Frau an. Ende zwanzig, lockiges blondes Haar, Brille. Offenbar eine Studentin. „Entschuldigen Sie bitte!“, sagte sie und blickte von ihrem Buch auf. Es ist wohl langsam Zeit, nicht nur die Haare zu zählen, die mir ausfallen, sondern auch die Anzahl der Menschen unter dreißig, die mich siezen. „Entschuldigen Sie bitte!“, sagte die Studentin noch einmal. „Könnten Sie mir eventuell diesen Ausdruck erklären!?“ Ich schaute in den Text, irgendetwas Kulturwissenschaftliches zum Thema Erinnerung und Identität. Ein Wort auf der Seite war mit Textmarker angestrichen. „Atavismus!?“, fragte ich. Sie nickte. „Nun, ein Atavismus ist etwas, das sich überlebt hat, nicht mehr in die Zeit passt …“, formulierte ich und wunderte mich selbst ein wenig.
Die Studentin runzelte die Stirn: „Also so etwas wie anachronistisch, altmodisch, nicht mehr up to date?“ „Exakt!“, entgegnete ich und blickte aus dem Fenster. So kann man’s auch sagen.
ANSGAR WARNER