: Frankreichs Forscherelite droht mit dem Ausstand
Mehr Geld für die Forschung fordern französische Wissenschaftler. Forscher kündigen ihren kollektiven Rücktritt an
Im Stich gelassen – so fühlt sich die Crème de la Crème der französischen NaturwissenschaftlerInnen. In einem „offenen Brief an die Regierung“ beklagen sie die Zerschlagung der Grundlagenforschung in Frankreich. Ihr dreiseitiges Schreiben – ein dramatischer Appell, der beschreibt, dass die Forschung in Frankreich erstickt wird und dass hochqualifizierte WissenschaftlerInnen mangels beruflicher Perspektive in Frankreich in die USA getrieben werden – endet mit einer unmissverständlichen Drohung: Wenn nicht umgehend die Mittel für die Wissenschaft erhöht, zusätzliche junge Talente angestellt und ein echter Neuanfang der Forschung in Frankreich organisiert werden, wollen sie kollektiv von ihren Führungspositionen zurücktreten.
Sollte es dazu kommen, wären die Forschungslabors und die wissenschaftlichen Universitätsinstitute Frankreichs kopflos. Denn unter den mehr als 17.000 WissenschaftlerInnen, die die Petition „Die Forschung in Gefahr“ (http://recherche-en-danger.apinc.org) bislang unterzeichnet haben, sind mehrere NobelpreisträgerInnen sowie einige der renommiertesten PhysikerInnen, GenetikerInnen und MedizinerInnen des Landes.
Allein im „Inserm“, dem Medizinforschungsinstitut, das in den vergangenen zwei Jahrzehnten weltweit beachtete Entdeckungen bei der Organtransplantation, der Behandlung von Krebs und von Herz- und Gefäßkrankheiten sowie bei der Therapie von genetischen Erkrankungen gemacht hat, gäbe es im Falle einer kollektiven Amtsniederlegung keine einzige Abteilung und auch keine Forschungsgruppen mehr, die noch eineN LeiterIn hätten. Alle würden gehen. Ähnliches würde in den anderen staatlichen Forschungseinrichtungen geschehen, die rund 105.000 der insgesamt knapp 190.000 der naturwissenschaftlichen ForscherInnen des Landes beschäftigen. „Wir sind uns der Schwere einer solchen Entscheidung bewusst“, heißt es im Brief der Naturwissenschaftler, „aber das sind wir unseren jungen Kollegen schuldig.“
Die Unterzeichner, die jetzt die Regierung und Staatspräsident Jacques Chirac an ihre nicht gehalteten Versprechen – Forschungsministerin Claudie Haigneré wollte „die Forschung zurück ins Herz der Gesellschaft rücken“ und Chirac hatte in seinem letzten Wahlkampf von der Forschung als „nationaler Priorität“ gesprochen – erinnern, stehen längst nicht alle der Opposition nahe. Manche von ihnen haben schon unter der verflossenen rot-rosa-grünen Regierung gegen Einschnitte in das Forschungsbudget und Stelleneinfrierungen protestiert.
Den letzten Anstoß für den öffentlichen und kollektiven Alarmschrei aus den Forschungslaboren gab Ende Dezember eine Personalentscheidung. Da wurde bekannt, dass die Regierung in diesem Jahr 550 weitere Planstellen in der Grundlagenforschung streichen beziehungsweise in befristete Verträge verwandeln will. Für die ForscherInnen ist das ein weiterer Beitrag zur Verarmung ihrer Labors und zur „wissenschaftlichen Unterentwicklung Frankreichs“. Jenseits von gewerkschaftlichen und politischen Strukturen machte sich eine Gruppe um den Immunzellenforscher Alain Trautmann aus dem Institut Cochin daran, die Petition zu verfassen.
Die festen Stellen in den Labors sind schon lange rar geworden. So durfte das Inserm im Jahr 2002 nur noch 95 ForscherInnen einstellen. Damit ersetzte es gerade jene, die in Rente gegangen waren. Zwei Jahre später soll das Institut nur noch 30 neue Forscher einstellen dürfen. In seinen Labors wimmelt es von WissenschaftlerInnen mit prekären Jobs. Sie müssen sich von einem Sechs-Monats-Vertrag zum nächsten hangeln. Und sie vergeuden kostbare Energie und Zeit auf die Suche nach immer neuen Verträgen.
Jenseits des Atlantiks ist das anders. In den USA hat die Clinton-Regierung den Forschungsetat drastisch aufgestockt. Allein das Budget des mit dem französischen Inserm vergleichbaren „Nationalen Gesundheitsinstituten“ NIH wurde in fünf Jahren verdoppelt. Großzügiger als in Europa ist auch die Forschungspolitik in Japan. Während Frankreich 2 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes der Forschung widmet – womit es bereits über dem EU-Schnitt von 1,9 Prozent liegt –, geben die USA 2,7 und Japan sogar 3 Prozent dafür aus.
Mit der engagierten staatlichen Forschungsförderung schaffen die USA und Japan jenes Umfeld, nach dem private Institute verlangen. Sie erwarten, dass die Grundlagenforschung, die keine Garantien auf Profit bietet, vom Staat finanziert wird. Als Umfeld und Voraussetzung für ihre private Tätigkeit. Weil dieses Umfeld in Frankreich fehlt, sind in den vergangenen Jahren bereits zwei private Pharmalabore – Aventis und Pfizer – in die USA übergesiedelt. Die PetitionärInnen befürchten, dass weitere private Institute diesem Beispiel folgen könnten.
Die Priorität der USA für die Forschungsförderung hat auch einen massiven Brain-Drain nach sich gezogen. Traditionell gehört zu der Ausbildung von ForscherInnen nach den ersten Studienjahren ein mehrjähriger Auslandsaufenthalt. Oft in den USA. Doch während Anfang der 90er-Jahre noch 50 Prozent der DoktorandInnen nach zwei bis drei Jahren nach Frankreich zurückkamen, waren es im Jahr 2000 nur noch 25 Prozent. Die anderen blieben in den USA.
„Die meisten von ihnen sind glücklich dort“, stellten mehrere Direktoren des Inserm fest, aber Frankreich verliere seinen Anteil am wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt: Die Entdeckungen finden in den USA statt. Die Patente sind US-amerikanisch. Und Frankreich muss „bezahlen, um neue Medikamente einzuführen, die in den USA von brillanten jungen Wissenschaftlern entwickelt wurden, die aus unseren Labors hervorgegangen sind“.
Neben dem Stellenabbau wird auch die Schwerpunktsetzung in der Forschung kritisiert, die stark von politischen Konjunkturen geprägt ist. „Natürlich muss eine Regierung die großen Linien der Forschungspolitik bestimmen“, erklärt der Immunforscher und Autor der Petition, Alain Trautmann: „Aber dann muss sie die Wissenschaftler arbeiten lassen. Entdeckungen in der Grundlagenforschung lassen sich nicht programmieren.“ Statt je nach politischer Opportunität und in großer Eile Gelder und Personal für eine „Krebskampagne“ und andere Ad-hoc-Projekte zu mobilisieren, verlangen die protestierenden WissenschaftlerInnen, dass vor allem der feste Forschungsapparat erhalten bleibt. Trautmann: „Woher sonst sollen die Nachwuchstalente kommen?“
Die politische Spitze in Paris reagierte unterschiedlich auf die Proteste. Staatspräsident Chirac kündigte an, dass er das Forschungsbudget bis ins Jahr 2010 auf 3 Prozent des BIP erhöhen werde. Forschungsministerin Haigneré, die frühere Astronautin, empfing eine Delegation der ForscherInnen und sicherte ihnen zu, die Diskussion mit ihnen fortzusetzen. Zugleich hat sie an das wirtschaftsliberale Dogma erinnert, das auch den Stellenstreichungen in der Forschung zugrunde liegt: Flexibilität sei gut.
Aggressiv hingegen ist der Ton in Paris, wo das Geld verwaltet wird. Finanzminister Francis Mer hat kopfschüttelnd über die protestierenden ForscherInnen gesagt: „Ich verstehe ihre Aufregung nicht.“ Und der Budgetminister Alain Lambert ließ bei einer Debatte im Parlament einen Satz fallen, der ihm noch lange nachhängen wird: „Bevor ich das Budget aufstocke, muss man mir die Nützlichkeit der Forschung beweisen.“ DOROTHEA HAHN