: „Nehmen Sie Ihr Buch und verlassen Sie die Stadt“
Vor zwei Jahren erschoss ein Schüler in Erfurt 13 Lehrer, zwei Mitschüler des Gutenberg-Gymnasiums und einen Polizisten. Nun bringt ein Buch über das Massaker den Alptraum zurück. Bei einer Lesung greifen Gutenberg-Schüler die Autorin an
AUS ERFURT NADJA KLINGER
Auf Michael Johns Visitenkarte steht, dass er für Marketing zuständig sei. Das stimmt. Seit Jahren sorgt er dafür, dass Geschichten, die sich in den Regalen stauen, unter die Leute kommen. Er organisiert Lesungen. In einem Buchladen am Anger in der Erfurter Altstadt. Wenn er das gut macht, sollte das eigentlich in der Kasse zu sehen sein. Aber für das, was ein Buch kostet, bekommen die Leute im Geschäft nebenan einen warmen Pullover. Oder eine Handykarte. Oder reichlich Thüringer Wurst. Bücher sind nicht von dieser Welt. An manchen Abenden sitzt John mit einer Handvoll Menschen zur Lesung im Laden. Marketing, findet Michael John, ist deshalb nicht das passende Wort. Besser gefällt ihm der Begriff Öffentlichkeitsarbeit.
Letzten Dezember schlug ihm die Thüringische Landeszentrale für Politische Bildung einen Buchtitel zur Lesung vor, der ein Zitat ist. „Für heute reicht’s“, das hatte der 17-jährige Robert Steinhäuser gesagt, nachdem er vor knapp zwei Jahren im Gutenberg-Gymnasium, unweit der Erfurter Altstadt, 13 Lehrer, zwei Mitschüler und einen Polizisten erschossen hatte. Seitdem hat Erfurt etwas, was es sehr weit über die Thüringer Landesgrenzen hinaus bekannt macht. Seitdem ist Erfurt die Stadt mit der Wunde. Die Stadt, die sich selbst wieder aufpäppelt. Die Stadt, in der jemand „am 26. April“ sagt und alle Bescheid wissen. Die Stadt, in der „Gutenberg“ kein Name ist und kein Ort und kein Datum. Nichts Fassbares: Fragen, die offen sind. Ein Riss zwischen dem Davor und dem Danach. Eine Schlucht, die jeder im Rücken haben und von der man sich so schnell wie möglich entfernen will. Absolute Leere.
Die Schriftstellerin Ines Geipel ist kurz nach dem so genannten Amoklauf von Berlin nach Erfurt gezogen und hat den Tathergang sowie die Folgen recherchiert. Sie hat mit Schülern und Lehrern gesprochen, mit Hinterbliebenen der Toten. Sie hat Zeitungen ausgewertet und Filmmaterial, Untersuchungsakten eingesehen, sie zitiert aus Zeugenvernehmungen und Mitschnitten des Polizeifunks. Sie sagt von sich, dass sie ein Faible für das akribische Auswerten von Fakten und Akten habe. Eine Frau, die so ein Faible hat, muss hart bleiben können. Eine Frau, die hart bleibt, geht immer konsequent weiter. Auch an dem Punkt, da sie merkt, dass Recherchen, die sie im Interesse der Opfer führt, zu Erkenntnissen kommen und Fragen aufwerfen, die den Opfern nicht gut tun. So eine Frau schreibt das dann auch auf. Michael John hat die 250 Seiten im Dezember gelesen.
Wie alle Erfurter ist er reichlich ausgestattet mit Informationen rund um das Massaker. Jedoch hatte er die Details bislang noch nie in einem solchen Zusammenhang gelesen: verbunden mit Fragen über Fragen, sodass er plötzlich merkte, wie viele es waren.
„Ich bin nur Erfurter“, sagt er. Er meint damit, dass er sich in der Stadt wie ein Außenstehender fühlt, nicht mittendrin: Er hat kein krankes Herz. John will wohl einfach mit „Gutenberg“ nicht so viel zu tun haben. Denn einer muss ja einen klaren Kopf bewahren.
Als er mit dem Lesen fertig war, musste er auch noch feststellen, dass es nach wie vor auf keine der vielen Fragen eine Antwort gab. Wäre das Massaker zu verhindern gewesen? Welchen Anteil hat das Bildungssystem, das Klima an einer Schule, in der Gesellschaft an diesem Ausbruch von Gewalt? Gab es einen zweiten Täter? Warum hat die Polizei mit ihrem Einsatz so lange gezögert? Warum wurde die Notärztin zurückgehalten, warum den Schwerverletzten nur zögerlich geholfen? Warum wurden die Todeszeiten offiziell auf jene Minuten festgeschrieben, in denen der Mörder durchs Haus zog, obwohl einige Lehrer Stunden nachdem sie von den Kugeln getroffen worden waren, nachweislich noch lebten? Warum wurden die Schüler erst nach Stunden evakuiert? Ganz schön heikel, dachte Michael John, der das Wort Marketing wirklich nicht mag. Er dachte: Wenn es da noch so viel zu klären gibt, dann muss man unbedingt Öffentlichkeit schaffen.
Im Sommer hatte er bereits zehn Exemplare von Ines Geipels Buch für den Laden bestellt. Wegen der Lesung, die er für Januar zusagte, bestellte er noch einmal 100 Bücher mehr. Am 10. Januar erschien in der Thüringer Allgemeinen ein Interview mit Ines Geipel. Es war ein Samstag. Erfurt wusste Bescheid. Es kommt hier selten vor, dass Leute wegen eines Zeitungsartikels sofort in die Altstadt laufen und nach einem Buch fragen. Nun kamen über 100 Leute und alle hatten sie in ihrer Erregung übersehen, dass das Buch erst in sechs Tagen erscheinen sollte. Derweil erschienen in Zeitungen Leserbriefe, die das Buch verrissen, ohne es zu kennen. Leute riefen im Buchladen an. Regten sich auf.
Am Erscheinungstag, dem 16. Januar, waren bereits 150 Exemplare verkauft. John bestellte beim Rowohlt Verlag noch 300 Stück nach. „Her damit“, sagte er. Gleichzeitig erschienen Schüler des Gutenberg-Gymnasiums und fragten, ob es möglich sei, den Verkauf noch zu verhindern. John verneinte. Daraufhin erschienen wieder Schüler, dann wieder, immer in Gruppen. Es sah aus wie organisiert. Es sah aus, als schaukelte sich die Stadt gerade hoch. Michael John entschloss sich, die Kirchengemeinde der Kaufmannskirche zu bitten, Autorin und Zuhörer aufzunehmen.
Es war nicht der mangelnde Platz in seiner Bücherei, der ihn dazu trieb. Alle spürten jetzt, was los war in der Stadt. Der Verlag fragte aus Berlin, ob Polizeischutz für Ines Geipel nötig sei. Die Erfurter Polizei bot sich von selbst an, in Zivil mit unter den Zuhörern zu sitzen. Man hoffte einfach, dass der Kirchenraum die Menschen besänftigt.
Plötzlich wollen die Gemeindevorsteher keine Plätze für die Presse. Sie wollen überhaupt keine Presse. Das hat mit „Gutenberg“ zu tun. Mit den schlechten Erfahrungen, die nahezu alle Betroffenen mit aufdringlichen Journalisten und deren schamlosen Kameras und Mikrofonen gemacht haben. „Keine Presse wäre die schlechteste Presse“, sagt Michael John. Die Kirchenleute lassen sich umstimmen. Man sagt den Pressevertretern, sie sollten „ihre Verantwortung wahrnehmen“. Man sagt es streng. Niemand erwidert etwas.
In die Kaufmannskirche passen 500 Leute, aber am 21. Januar, kurz vor der Veranstaltung, muss Michael John noch ein paar zusätzliche Stühle aufstellen, so groß ist der Andrang. Zunächst herrscht Schweigen, als Ines Geipel liest. Sie hat ihr Buch mit Zetteln gespickt. Sie redet viel zwischen den Passagen. Erklärt sich. Sie hat lange mit Lehrern und Schülern gesprochen, die sie jetzt plötzlich nicht mehr kennen.
„Ist das nicht merkwürdig?“, fragt sie. Sie hat Akten gelesen, zu denen eigentlich niemand Zugang hat. Sie zitiert Leute aus diesen Akten, die sich verraten fühlen. Sie hat ein literarisches Buch geschrieben, denn sie hat eine Hauptfigur erfunden, die sie mit den Gedanken und dem Wesen ehemaliger Gutenberg-Schüler ausstattet, mit denen sie gesprochen hat.
Irgendwie ist es jedoch, als würde die Hauptfigur nicht nur für mehrere Schüler sprechen, sondern vor allem für das, was Ines Geipel dem Stand der Dinge noch hinzuzufügen hat. Die Hauptfigur geht für die Autorin über den heiklen Punkt hinaus, hinter dem die Opfer sich angegriffen fühlen. Sie denkt weiter, sie spricht alles aus. Sie ist die Bedingung dafür, dass die Geschichte des „26. April“ objektiv nachvollzogen werden kann.
Gleichzeitig schadet sie dem einzigen Anliegen, das sie hat: Gespräche entfachen, Interesse, um eventuell doch noch ein paar Fragen beantworten zu können. Denn die Hauptfigur ist unrealistisch. Sie kommt von draußen und ist gleichzeitig eine von Mittendrin. Kein Mensch kann so sein. Sie recherchiert in Unterlagen und schützt ihre Quellen wie eine Journalistin.
Zugleich greift sie nach der Macht der literarischen Geschichte, Tatsachen zu schaffen in Bildern, zu überzeichnen, zu pointieren, nach Belieben auszuwählen. Kein Mensch in Erfurt, der sich in dieser Geschichte wiederfindet, wird nachdenken und reden. Psychologen, die am Gutenberg-Gymnasium wirken, sehen ihre Arbeit in Gefahr durch dieses Buch. „Es hat uns das Rückgrat gebrochen“, sagt eine Schülerin.
Kein Buch kann ein Rückgrat brechen. Niemand kann etwas dagegen machen, wenn Gymnasiasten geschlossen eine Lesung in einer Kirche verlassen. Mancher versteht ihr Gejohle nicht, ihren rockkonzertartigen Protest.
Sie könne ihnen ihr Trauma im Moment nicht ansehen, sagt Ines Geipel.
Man könne nicht verstehen, was es bedeute …, sagen die „Gutenberger“. Sobald sie das sagen, entsteht Distanz. Zwischen ihnen und allen anderen. Wie sich nähern? Mit einem Buch geht es nicht. „Nehmen Sie Ihr Buch und verlassen Sie die Stadt“, sagt eine Schülerin.