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Archiv-Artikel

Psychiatrischer Zeitgeist

Der US-Wissenschaftsjournalist Robert Whitaker kritisiert in seinem Buch „Mad in America“ zu Recht die schwere Misshandlung psychisch Kranker. Leider neigt er jedoch zur bedenkenlosen Demagogie

von CHRISTOPHER BAETHGE

Eine Gruppe von Ärzten entschließt sich zu einer verzweifelten Therapie, um den geisteskranken Mr. Whitney zu heilen. Man taucht ihn so lange unter Wasser, bis er das Bewusstsein verliert. Auf diese Weise, so hoffen die Ärzte, werde die Kette seiner unsinnigen Gedanken durchbrochen und beendet. Wie nicht anders zu erwarten, erfährt der Unglückliche durch diese drastische Maßnahme keinerlei Besserung. Er kann froh sein, dass er diese Folter im Jahr 1815 überlebt.

Der mehrfach preisgekrönte Bostoner Wissenschaftsjournalist Robert Whitaker schildert einige solch beklemmender Geschichten in „Mad in America“, einem Werk, mit dem er die immer noch bestehende schwere Misshandlung psychisch Kranker in den USA beweisen möchte: „Bad Science, Bad Medicine and the Enduring Mistreatment of the Mentally Ill“, wie er eingängig untertitelt. Die Provokation hatte Erfolg. Seit den stürmischen Diskussionen über die Psychiatrie in den Siebzigerjahren hat wohl kein Beitrag so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Whitaker hat einen historischen Ansatz gewählt und beginnt seine Schilderung in der Mitte des 18. Jahrhunderts, als sich der moderne Begriff von psychischer Krankheit zu entwickeln begann. Gekonnt verwebt er Geschichten über Patientenschicksale und ärztliches Fehlverhalten mit wissenschaftlichen Ergebnissen. Whitaker konzentriert sich auf Amerika und setzt ein mit der Gründung der ersten Klinik für psychisch Kranke in Philadelphia im Jahre 1756.

Viel Raum nimmt die Darstellung des moral treatment und seiner scheinbaren Erfolge ein. Es gilt Whitaker als der Goldstandard der Psychiatrie, als der Gegenpol zu allem, was kommen sollte, und als die Lösung für die aktuellen Probleme. Das moral treatment war von Philippe Pinel während der Französischen Revolution als Reaktion auf die zum Teil überaus aggressiven Formen des Umgangs mit Verrücktheit begründet worden. Häufig waren psychisch Kranke eher Tieren als Menschen gleichgestellt. Demgegenüber bedeutete moral treatment die respektvolle Behandlung psychisch Kranker ohne Zwangsmaßnahmen in einer ruhigen und friedlichen Atmosphäre.

Diesem paradiesischen Urzustand folgt am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, so Whitaker, die Machtübernahme durch neurologisch orientierte Ärzte. Eine Landnahme, deren Stil heutige Umgangsformen unter Neurobiologen, akademischen Psychiatern und hauptsächlich klinisch tätigen Nervenärzten bereits vorweggenommen zu haben scheint: Mit ihrer guten Ausbildung in Anatomie und Physiologie waren sie sich sicher, dass Geisteskrankheiten auf Hirnschädigungen zurückzuführen seien, und verachteten die Irrenärzte als altmodisch und hoffnungslos am christlichen Weltbild haftend. Wissenschaftsgeschichtlich war der entscheidende Paradigmenwechsel der Übergang von einem humanistischen zu einem biologisch-reduktionistischen Modell psychischer Erkrankungen, das nach Whitakers Urteil unmittelbar in die Eugenik mündete.

Die Allianz von Eugenikern und Sozialdarwinisten umspannt bald die westlichen Nationen. Beispielsweise fördert 1925 die Rockefeller Foundation mit 2,5 Millionen US-Dollar die eugenischen Forschungsprojekte am Kaiser-Wilhelm-Institut für Psychiatrie in München, dem der Rassenhygieniker Ernst Rüdin vorsteht. Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lassen die Nationalsozialisten in Deutschland fast 400.000 Menschen, darunter viele psychisch Kranke, sterilisieren. Ab 1939 werden ca. 70.000 psychisch Kranke und körperlich Behinderte ermordet.

Aus dem psychiatrischen Zeitgeist dieser Epoche leitet Whitaker nun in zwangloser Assoziation die weitere Entwicklung der Psychiatrie bis heute ab. Kurz gesagt: Die Psychiatrie habe mehrfach gezeigt, wie rücksichtslos und brutal sie sei. Dies komme auch in den Therapien zum Ausdruck, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehen: Insulintherapie, Elektroschockbehandlung und Gehirnchirurgie. Die Wirkung dieser Methoden beruhe auf der Zerstörung von Hirngewebe. Und genau das sei auch bei den Medikamenten (Neuroleptika) der Fall, die heute gegen Psychosen eingesetzt würden. Daher sei auch die heutige Therapie verantwortungslos und patientenfeindlich.

Diese problematische Beweisführung ist eine Zäsur in Whitakers Buch. Es ist der Umschlagpunkt von der gekonnten Rhetorik zur bedenkenlosen Demagogie. Ab hier geht der Text in eine antipsychiatrische Kampfschrift über, deren Hauptinstrument das selektive, also irreführende Zitat ist. Obwohl sich Whitaker nur an wenigen Stellen auf die antipsychiatrischen Bewegungen der Siebzigerjahre bezieht, wird die Ähnlichkeit seiner Position deutlich – mitsamt der Infragestellung der Schizophrenie als Erkrankung.

„Mad in America“ müsste eigentlich „Mad from schizophrenia in America“ heißen. Weitere Erkrankungen kommen nämlich bei Whitakers Kritik der Psychiatrie, wie generell in der Antipsychiatrie, nicht vor. Warum? Weder die anderen Krankheitsbilder noch deren Behandlungen unterscheiden sich grundsätzlich von der Schizophrenie. Weshalb also keine Erwähnung der guten medikamentösen Therapieerfolge bei der manisch-depressiven Krankheit, weshalb kein Wort über die unzweifelhaft hirnorganischen Ursachen der Demenzen, über das komplexe Zusammenspiel von psychologischen, sozialen und biologischen Faktoren bei den Abhängigkeitserkrankungen?

Die Wirkung des Buches beruht neben dieser Fokussierung auf die Schizophrenie und neben seiner vermeintlich überzeugenden sachlichen Argumentation vor allem auf dem Prinzip der historischen Diskriminierung: Die kontinuierliche Einbeziehung der modernen Psychiatrie in einen teils tatsächlich skandalösen, teils von Whitaker skandalisierten historischen Zusammenhang vermittelt das Gefühl, es gebe keinerlei Brüche und Weiterentwicklungen in der Geschichte der Psychiatrie.

Immerhin richtig ist der Hinweis darauf, dass in der Psychiatrie häufig sehr schlampig diagnostiziert wird. In diesem Zusammenhang nimmt man Whitakers These, dass die Rettung der amerikanischen Psychiatrie aus Europa kommen müsse, wo allgemein sauberer diagnostiziert werde, halb bestätigend, halb betreten zur Kenntnis. Beachtung verdient auch Whitakers Kritik an der klassischen psychiatrischen Tradition des eitlen Fachvertreters, der eine neue Behandlungsform als therapeutischen Durchbruch verkauft, um wenig später erkennen zu müssen, dass viele Patienten doch nicht von der neuen Wundertherapie profitieren.

Robert Whitaker: „Mad in America: Bad Science, Bad Medicine, and the Enduring Mistreatment of the Mentally Ill“, 352 Seiten, Perseus Books, Cambridge 2003, 19,40 €