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Archiv-Artikel

Späte Genugtuung für Erdogan

In der Türkei ist der Führer der regierenden AK-Partei, Tayyip Erdogan, bei einer Nachwahl ins Parlament gewählt worden. Damit kann er Regierungschef werden und neu über die Stationierung von US-Truppen für einen Irakkrieg abstimmen lassen

aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

Noch nie hat eine Nachwahl zum türkischen Parlament weltweit für so viel Aufmerksamkeit gesorgt wie die Vergabe der drei Parlamentssitze in der südöstlichen Provinz Siirt am Sonntag. Nicht nur dass diese Wahl dem Vorsitzenden der islamisch-konservativ regierenden AKP, Recep Tayyip Erdogan, den Weg ins Amt des Ministerpräsidenten ebnete. Von Erdogan wird auch erwartet, dass er im Parlament für eine Zustimmung zur Stationierung von US-Truppen sorgt, die erst kürzlich abgelehnt worden war.

Der Wahlsieg mit 85 Prozent der Stimmen in Siirt war für Erdogan keine Überraschung. Nachdem die kurdische Dehap, die im November die meisten Stimmen gewinnen konnte, dieses Mal den Urnengang boykottierte, bestanden von Beginn an wenig Zweifel an einen Sieg der AKP. Siirt war für Tayyip Erdogan aber auch ein ganz besonders geeigneter Platz, es seinen Gegnern im türkischen Establishment endlich zu zeigen. Denn hier hatte er Mitte der 90er die Rede gehalten, die ihm später zum Verhängnis wurde. Hier hatte er einer aufgeregten Menschenmenge die Gedichtzeilen von den Moscheen, deren Minarette „unsere Bajonette und deren Kuppeln unsere Helme“ sind, zugerufen. Dafür wurde er später zu zehn Monaten Haft verurteilt und musste als Oberbürgermeister von Istanbul zurücktreten. Dass er nun in Siirt gewählt wurde, scheint wie ein später Triumph über jene, die bis zuletzt versucht hatten, ihn als Ministerpräsidenten zu verhindern.

Der amtierende türkische Ministerpräsident Abullah Gül gab gestern bekannt, er wolle noch in dieser Woche zurücktreten und damit den Weg für Erdogan frei machen. Gül war nach dem Wahlsieg der AKP im November ins Amt des Regierungschefs gekommen, weil Parteichef Erdogan damals aufgrund einer Vorstrafe noch nicht ins Parlament gewählt werden konnte. Erdogan soll nun spätestens am Mittwoch als Parlamentarier vereidigt werden. Präsident Sezer muss Erdogan dann als Chef der stärksten Parlamentsfraktion den Auftrag zur neuen Regierungsbildung erteilen, was bis zum Wochenende erfolgen könnte.

Es wird damit gerechnet, dass Tayyip Erdogan seine formale Wahl zum Ministerpräsidenten mit einer Abstimmung über die Stationierung von US-Truppen verbindet und seiner Partei damit quasi die Vertrauensfrage stellt. Erdogan hatte sich schon vor der ersten Abstimmung für eine US-Truppenstationierung ausgesprochen, damals allerdings die Abstimmung in der Fraktion freigegeben. Obwohl die Fraktion im zweiten Anlauf nun seinem Wunsch wohl folgen wird, geht er ein hohes Risiko ein. Seine Wähler werden nicht vergessen, dass er das Land gegen die Mehrheit der Bevölkerung in den Krieg geführt hat.

Unterdessen setzen die US-Truppen die Entladung ihres Kriegsmaterials in Iskenderun und den Aufbau der Nordfront fort, als hätte es überhaupt keinen gegenteiligen Parlamentsbeschluss gegeben. Offiziell heißt es, die US-Truppen bewegten sich innerhalb des vom Parlament genehmigten Mandats zur Instandsetzung von Häfen und Flugplätzen.

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