Der Blick in den Abgrund

Blair zeigt sich überrascht von der Drohung seiner Ministerin Short. Ein Krieg ohne UN-Mandat könnte ihn selbst das Amt kosten

Der einst so souverän auftretende Blair wirkt abgespannt und nervös

aus Dublin RALF SOTSCHECK

Das wird ihr Tony Blair nicht verzeihen: Die britische Ministerin für Entwicklungshilfe, Clare Short, hat in einem Radio-Interview ihren Rücktritt für den Fall angekündigt, dass Großbritannien und die USA den Irak ohne eine zweite UN-Resolution angreifen. Sie könne nicht bleiben, um etwas zu verteidigen, das nicht zu verteidigen ist, sagte sie und fügte hinzu, dass der Premierminister „außerordentlich rücksichtslos die Zukunft seiner Regierung“ aufs Spiel setze.

Andy Reed, der Mitarbeiter der Umweltministerin Margaret Beckett, hat aus denselben Gründen bereits am Sonntag seinen Hut genommen. Mindestens zehn weitere Regierungsmitglieder werden im Falle eines Krieges ohne UN-Absegnung zurücktreten, darunter auch der frühere Außenminister Robin Cook. Der frühere Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Doug Henderson, sagte, dass 95 Prozent der Parteimitglieder gegen den Krieg seien. Er prophezeite, dass 150 Labour-Abgeordnete rebellieren werden. Doch so weit wird es Blair nicht kommen lassen: Eine erneute Abstimmung im Unterhaus vor einem Angriff auf den Irak ist nicht vorgesehen. Beim letzten Mal verstießen im Februar 122 Labour-Abgeordnete gegen den Fraktionszwang.

Clare Shorts heftige Kritik kommt für den Premierminister zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Sie untergräbt seine Glaubwürdigkeit in der Welt und vor allem bei den unentschlossenen Mitgliedern des Sicherheitsrats. Die sind im Augenblick heftig umworben. Die Londoner Regierung will die für Afrika zuständige Staatssekretärin Baronin Amos noch in dieser Woche nach Angola, Kamerun und Guinea schicken – zum zweiten Mal innerhalb von zwei Wochen. Sie soll die drei Sicherheitsratsmitglieder überreden, der für Blair so wichtigen UN-Resolution zuzustimmen.

Baronin Amos folgt auf den Spuren von Dominique de Villepin, dem französischen Außenminister, der gestern in Angola eingetroffen ist und die drei afrikanischen Länder zur Ablehnung der UN-Resolution bewegen will, damit Frankreich keinen Gebrauch von seinem Vetorecht machen muss.

Blairs Pressesprecher sagte gestern, er sei von Shorts Äußerungen überrascht: Sie habe das bisher in ihren Gesprächen mit dem Premierminister nie angedeutet. Beverley Hughes, Staatssekretärin im Innenministerium, sagte: „Zu diesem so wichtigen Zeitpunkt, in dem wir uns alle eine zweite UN-Resolution wünschen, ist es verblüffend, dass eine Kabinettsministerin ihre Meinung im Radio kundtut, statt sie dem Premierminister oder ihren Kabinettskollegen mitzuteilen.“

Blair muss Shorts Rücktrittsdrohung aber zumindest befürchtet haben. Zum einen hat er seine Entwicklungshilfeministerin in den vergangenen Monaten vorsichtshalber stets persönlich über die Verhandlungen in den UN auf dem Laufenden gehalten, zum anderen ist Short schon beim letzten Golfkrieg aus Protest gegen die Labour-Haltung aus der Führungsriege der Partei zurückgetreten. Damals war sie ein Einzelfall, diesmal hat sie wohl eine Schleuse geöffnet. Die Rebellion scheint größer, als Blair es befürchtet hat.

Wie auch immer es ausgeht: Fest steht, dass die Labour Party nie mehr so sein wird wie früher. Bei vielen Abgeordneten und Parteimitgliedern hat Blair seinen Vertrauensvorschuss verspielt. Schon braut sich die nächste Rebellion zusammen, wenn die Regierung ihre halbgare Gesundheitsreform durchdrücken will. So widerstandslos wie die Reform der Labour Party in eine konservativ-sozialdemokratische Partei werden die Mitglieder das nicht hinnehmen.

Im Vergleich zu seinem Amtsantritt 1997, als er pausenlos lächelte und souverän auftrat, wirkt Blair heute abgespannt und nervös. Dazu hat er allen Grund. Es ist für ihn von entscheidender Bedeutung, dass der Sicherheitsrat grünes Licht für einen Angriff auf den Irak gibt. Das ist der einzige Grund, warum sich US-Präsident George Bush überhaupt darauf eingelassen hat, noch mal vor die UN zu gehen. Müsste er keine Rücksicht auf Blair nehmen, wäre der Krieg wohl längst im Gange.

Blair hingegen kann eine Attacke auf den Irak ohne UN-Absegnung nur dann politisch überleben, wenn sich die Opfer unter der irakischen Zivilbevölkerung in Grenzen halten und man tatsächlich die behaupteten Massenvernichtungswaffen findet. Sollte sich hingegen herausstellen, dass Saddam Hussein die Wahrheit gesagt hat, wird es für Blair eng. Die Hinterbänkler, die befürchten müssen, bei den nächsten Wahlen vom Volk abgestraft zu werden, suchen sich dann schnell einen neuen Parteichef.