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Archiv-Artikel

DER BUND MUSS BERLIN HELFEN – ABER NICHT, WEIL ES HAUPTSTADT IST Utopie als Kapital

Die Diskussion schien schon ausgestanden. Jahrelang führten Feuilletonisten eine „Hauptstadtdebatte“, redeten wechselnde Staatsminister eine „Hauptstadtkultur“ herbei, forderte PDS-Senator Gregor Gysi ein neues „Hauptstadtverständnis“. Vergebens. Das Thema interessierte niemanden. Weder die Berliner noch die übrigen Deutschen ließen sich einreden, ihnen habe in den vergangenen Jahrzehnten etwas gefehlt.

Jetzt hat Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit die Idee wieder aufgegriffen und sucht sie, ausgerechnet mit Hilfe des Bayern Edmund Stoiber, sogar ins Grundgesetz hineinzuschreiben. Doch nicht ohne Grund war die Debatte längst beendet worden: Berlin ist zwar Regierungssitz, aber beileibe keine Hauptstadt – und daran wird sich auch künftig nichts ändern. Im Gegenteil. Die Zahl der inländischen Berlin-Besucher, nach dem Regierungsumzug sprunghaft angestiegen, geht schon wieder zurück. Den Besuchern aus Passau, Rostock oder Castrop-Rauxel genügte es vollauf, sich ein einziges Mal die Nase an der Reichstagskuppel platt zu drücken. Exotische Reiseziele gibt es schließlich genug.

Das ist Berlin für die meisten Deutschen noch immer: exotisch. Wo eine Hauptstadt die Kräfte des Landes bündelt und repräsentiert, steht Berlin für das ganz Andere – im Positiven wie im Negativen. Es ist die ärmste Stadt in einer reichen Republik, es ist aber auch ein Experimentierfeld für Neues in einem Land, das sonst eher zur Beharrung neigt. Dieses wilde, unzivilisierte, ja: utopische Element ist Berlins einziges Kapital. Es würde durch das Festschreiben eines repräsentativen Hauptstadtbegriffs eher geschmälert als vermehrt.

Worum es bei den Berliner Haushaltsnöten wirklich geht, das sind die Altlasten aus der schwierigen Geschichte der geschundenen Stadt. Das kleine Bundesland leidet noch immer unter den Folgen von Krieg und Teilung, aber auch an den Konsequenzen einer verfehlten Politik nach 1990. Hier muss der Bund tatsächlich helfen, aber er sollte diese Rettungsaktion nicht unter dem Titel „Hauptstadt“ verkaufen. RALPH BOLLMANN