: „Die Herkunft wird ignoriert“
Der Dichter Rajko Djurić hat ein Buch über die Literatur der Roma und Sinti veröffentlicht. Ein Gespräch über Identitätsfindung und eine Muttersprache, für die es nicht einmal amtliche Dolmetscher gibt
Interview HEIKO HÄNSEL
taz: Herr Djurić, Sie haben eine Geschichte der Roma-Literatur vorgelegt. Bisher hat man sich eher mit den Lebensformen der Sinti und Roma und ihrer Verfolgung im Nationalsozialismus beschäftigt.
Rajko Djurić: Die Unkenntnis ist genau das Problem. Zwar hat es von Nicht-Roma einige Teiluntersuchungen zur Roma-Literatur in Europa gegeben. Mein Buch ist jedoch die erste Gesamtdarstellung, zudem die erste, die von einem Rom selbst stammt. Dabei ging es zunächst um eine Bestandsaufnahme, welcher Autor lebte wo und hat welche Werke veröffentlicht. Die Recherchen dazu waren ungeheuer aufwändig. Ich habe acht Jahre an diesem Buch gearbeitet.
Welche Entwicklungen sind für die Roma-Literatur charakteristisch?
Am Anfang stand wie auch in anderen Literaturen die mündliche Tradition, also Mythen, Märchen, Lieder. Zur Herausbildung einer Roma-Literatur im modernen Sinne kommt es in einem ersten Schritt durch Roma, die als Individuen in den Nationalliteraturen wirkten – wie John Bunyan (1628–1688) oder Milan Begović (1876–1948). Der Erste ein herausragender literarischer Vertreter in England, der Zweite der Vater der kroatischen Moderne. Ihre Roma-Herkunft wird bis heute ignoriert. Diese Autoren waren zu einer Art Ethnomimikry gezwungen. Das belegt eine Aussage des rumänischen „Homer“ Ioan Budai-Deleanu (1760–1820). Er gestand einem Freund in einem Brief: „Wir sind beide Zigeuner, aber ich bin gezwungen, Rumänisch zu schreiben.“
Wann begannen Roma-Schriftsteller, in ihrer Sprache, dem Romani, zu schreiben?
Die Verwendung der eigenen Sprache und das Bekenntnis zur eigenen Identität setzt sich erst seit dem 19. Jahrhundert durch. Und zwar mit Gina Ranjićić (1831–1890). Diese serbische Romni bekannte sich als erste Autorin offen zu ihrer Herkunft.
In Ihrem Buch führen Sie Autoren als Roma an, die sich dagegen gewehrt hätten, so bezeichnet zu werden, zum Beispiel den serbischen Bischof und Nationalisten Nikolaj Velimirović. Werden Sie nicht auf massiven Widerstand stoßen, wenn Sie Autoren aus dem nationalen Kanon sozusagen als Roma outen?
Mir geht es nicht um Exklusivität, ob ein Autor Deutscher oder Roma, Serbe oder Roma ist.
Aber es geht dennoch um Identität. Wird da über den Umweg einer gemeinsamen „Literatur“ nicht etwas erzwungen, was es vielleicht gar nicht gibt?
Selbstverständlich bin ich sehr kritisch gegenüber meinem Volk und gegenüber der Literatur der Roma und Sinti. Identität ist keine metaphysische Frage, sondern ein historischer Prozess. Etwas, das geschaffen wurde und weiter geschaffen wird. Sie müssen bedenken, dass fast alle Roma zweisprachig sind. So ist Serbisch wie meine zweite Muttersprache. Ich schreibe in Romani und in Serbisch. Aber dennoch fühle ich mich als Rom.
In der Bundesrepublik leben knapp 130.000 Roma. Hat die Literatur, die Sie beschreiben, da überhaupt eine Chance, sich durchzusetzen?
Die Roma-Literatur ist es wert, von einem breiteren Kreis wahrgenommen zu werden. Sie verfügt über hervorragende Vertreter. Mariella Mehr aus der Schweiz schreibt in Deutsch wunderbare Lyrik und Prosa. Oder Veijo Baltzar. Er ist ein finnischer Autor von Weltrang und ist ein Rom. Allerdings sind beide in Deutschland unbekannt. Ein Problem ist, dass es für Übersetzungen aus dem Romani keine kompetenten literarischen Übersetzer gibt.
Welche Autoren aus Deutschland stechen hervor?
Deutschland und Österreich stehen ganz im Zeichen der Erinnerungsliteratur an den Holocaust. Die Autorinnen und Autoren waren zur Zeit des Lageraufenthaltes meistens noch Analphabeten und haben erst nach der Befreiung aus den Lagern schreiben gelernt. Ihre Werke haben sie wie Philomena Franz oder Cejia Stojka mit Hilfe von Journalisten verfasst. Aus diesem Kontext hat sich allein Frithjof Hoffmann gelöst, der erste Sinto Deutschlands, der studiert hat.
Welchen Einfluss hat die seit 1990 anhaltende Emigration aus Südosteuropa auf die literarische Roma-Szene in Deutschland?
Hier kann man von einer Revolution sprechen. Die Autoren kommen vor allem aus Exjugoslawien. Nehmen Sie das Roma-Theater Pralipe, ursprünglich aus Skopje. Heute ist es in Mülheim an der Ruhr zu Hause und wird deutschlandweit wahrgenommen. Aus dem Theater heraus entstand ein weiteres Roma-Theater, das TKO in Köln. Daneben gibt es zahlreiche exilierte Schriftsteller in Deutschland wie den Belgrader Lyriker Jovan Nikolić oder Ruzdija Sejdović aus Montenegro.
Würden Sie sich mehr öffentliche Förderung der Roma-Literatur in Deutschland wünschen?
Die Situation der Roma in Deutschland ist verglichen mit anderen europäischen Ländern eine wahre Katastrophe. In Frankreich wurde sofort nach der Unterzeichnung der Europa-Charta in Paris je ein Lehrstuhl für Kultur und Sprache der Roma eingerichtet. Ähnliche Einrichtungen gibt in Prag, Triest und Bukarest. In Berlin haben wir vor anderthalb Jahren an den Präsidenten der Humboldt-Universität eine Anfrage zur Aufnahme der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Roma gestellt. Bis heute haben wir nicht einmal eine Antwort erhalten. Grundlegende Anforderungen sind noch nicht erfüllt, zum Beispiel das Recht auf Gebrauch der Muttersprache in den Behörden. Es gibt keine Dolmetscher für die Roma-Sprache. Von einer Förderung der Literatur kann in dieser Situation, in der elementare Menschenrechte nicht verwirklicht sind, wohl kaum die Rede sein.