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Archiv-Artikel

Grausam neoliberal

betr.: „Gerecht ist es, wenn alle eine Chance haben“, Interview mit Katrin Göring-Eckardt, taz vom 5. 3. 03

Die gesellschaftlichen Verwerfungen beim Übergang von der industriellen zur postmodernen Gesellschaft, die doch von Massenarbeitslosigkeit und erodierenden sozialen Sicherungssystemen nur symptomatisch begleitet werden, völlig ignorierend, glaubt auch Katrin Göring-Eckardt, noch mit dem Instrumentarium der Industriegesellschaft der Probleme Herr werden zu können, und hofft auf die Wirkung von Sozialabbau oder Privatisierung der Sozialversicherungen. Das ist in etwa so ahistorisch, als hätte man mit Instrumenten der Agrargesellschaft (z. B. Primogenitur vs. Erbhofteilung) den Verwerfungen der Industriegesellschaft begegnen wollen, und alle Beteiligten (inklusive Arbeitgeber) werden sich unweigerlich die Augen reiben ob ihrer Wirkungslosigkeit.

Gefragt sind vielmehr Antworten auf die verursachenden gesellschaftlichen Veränderungen, wie z. B. überwältigende Produktivitätszunahme oder vollständige Auflösung familiärer Sozialstrukturen im Zuge sich verändernder Wertesysteme. Eine mögliche Lösungsstrategie wäre dann etwa sukzessive Arbeitszeitverkürzung im Austausch (etwa 2:1) gegen individuell erbrachte soziale Dienstleistungen. Die daraus entwickelten Strategien sind jedenfalls zeitgemäßere Antworten und stünden der Vertreterin einer postmodernen Partei erheblich besser zu Gesicht als der Griff in die soziale Mottenkiste des 19. Jahrhunderts.

GEROLD SCHWARZ, Hamburg

Die Äußerungen von Katrin Göring-Eckardt zeigen mir eigentlich nur eines: dass die Grünen die Sozialpolitik oberhalb der Kreistagsebene abgeschrieben zu haben scheinen. Da ist viel die diffuse Rede von „Leute wieder in Arbeit bringen“, was angesichts der nackten Zahlen, der Diskrepanz zwischen offenen Stellen und Arbeitslosen, wie Hohn zu klingen scheint. Ausflüchte dagegen prägen die Aussagen über soziale Sicherung von Menschen, die keine Arbeit haben und so schnell auch keine kriegen werden. Die Quintessenz des Ganzen ist dann wohl: Wenn wir schon nicht die Arbeitslosigkeit abschaffen können, so können wir das sehr wohl mit den Arbeitslosen. Makaber.

Haben die Damen und Herren in der grünen Bundestagsfraktion einmal bedacht, was die Absenkung der Arbeitslosenhilfe „knapp über Sozialhilfeniveau“ eigentlich mit den Lebenslagen dieser Menschen macht? Die meisten von ihnen haben ein Leben lang gearbeitet und sich, gemessen an ihrem Einkommen, ein menschenwürdiges Leben bereitet, vielleicht sogar mit einigen Ersparnissen. Die daraus berechnete Arbeitslosenhilfe hält diese immer noch etwas über Wasser. Die Möglichkeiten, etwas hinzuverdienen, sind, wie wir im Schwäbischen sagen, ein „Nasenwasser“. Nun soll ihnen auch noch die Arbeitslosenhilfe gekürzt werden. Laufende Kosten für Zeitungsabos, Internetanschluss, Versicherungen, das für die Jobvermittlung hilfreiche eigene Auto und die, an der Sozialhilfe gemessenen, viel zu teuren Wohnung aber bleiben, weil dieser Mensch sich dies alles einmal erarbeitet hat und nun laut den Sozialhilferichtlinien nicht mehr behalten darf. Was alles bewirkt das? In anderen Staaten, in denen die Sozialsysteme schlechter sind, sehen wir erhöhte Kriminalität, dort, wo noch das Verhältniswahlrecht besteht, außerdem die Tendenz zu rechtsextremistischem Wahlverhalten. Meiner Meinung nach sind die Bundesgrünen dabei, die Grundzüge „Ökologisch, Sozial, Basisdemokratisch, Gewaltfrei“ von hinten her aufzufressen. Zurzeit sind sie gerade bei „Sozial“.

Im Übrigen, das sei gesagt, bin ich seit 21 Jahren (wann wird das Katrin Göring-Eckardt sein?) Mitglied der Grünen und vertrete meine Partei – dank dem baden-württembergischen Kommunalwahlrecht – seit mehr als 18 Jahren im hiesigen Gemeinderat. Seit dieser Zeit kämpfe ich unter anderem auch um sozialen Fortschritt. Was die Bundesgrünen gerade machen, ist für mich ein Rückschritt und grausamst neoliberal.

CLAUS LANGBEIN, Kornwestheim