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Archiv-Artikel

Der Gänsehautfaktor

Migranten in einem Pariser Kiosk: Auch notorische Weltverbesserer sind an diesem Tag durchaus zufrieden

PARIS taz ■ Der Kiosk im fernen Osten von Paris ist eine ideale Quelle für Antiamerikanismus. M’hamed Azzouz, der den Laden führt, ist ein Kind der nordafrikanischen Einwanderung. Und ein bekennender Linker. Beides sind Seltenheiten in einer Branche, wo es sonst nach altem Frankreich müffelt. Azzouz ist permanent entrüstet. Weiß immer, wo gerade demonstriert und gestreikt wird. Berät beim morgendlichen Zeitungskauf mit politischen Argumenten. Und agitiert seine Kunden mit flammenden Reden über Guantánamo, über Bombardements in Afghanistan und andere Bushismen. Zugleich bläst er Trübsinn über sein eigenes berufliches Schicksal. Denn am Ende der Kette im Zeitungsgeschäft ist der Niedergang der Printmedien besonders schmerzlich zu spüren.

Doch am Morgen nach der Wahl von Obama strahlt der Zeitungshändler bis über beide Ohren. In seinem Laden drängeln sich so viele Kunden, wie schon seit September 2001 nicht mehr. Darunter Afrikaner, die nie zuvor bei ihm gekauft haben. Und von denen er vermutet, dass sie gewöhnlich keinen Grund haben, Zeitung zu lesen. Alle tragen ein kleines Lächeln in den Mundwinkeln. Azzouz hat den Rekordabsatz vorausgesehen und mehr Zeitungen als sonst bestellt. „Ein Schwarzer im Weißen Haus“, sagt er, „das ist eine zweite Geburt für die Minderheiten der Welt. Eine Rache für Sklaverei, Kolonialismus und Diskriminierung“.

Fast alle, die an diesem Morgen Halt in Azzouz Laden machen, berichten von ihrer Freude. Von ihrer angenehmen Gänsehaut. Und von ihrem Hoffen, „dass er nicht enttäuscht“. Und selbst jene, die politisch weiter rechts stehen, finden noch etwas Positives an dem neuen US-Präsidenten. „Das ist gut für die Mischung“, sagen sie.

Azzouz, der sonst jeden Morgen die Welt verbessern will, ist an diesem Tag rundum zufrieden. Er ist überzeugt, dass Obamas Wahl „schwerer wiegt als der Fall der Mauer von Berlin“. Er reiht euphorische Adjektive aneinander: „magnifique, historique, monumental, beau“. Und er glaubt, dass es in Frankreich noch eine Weile dauern wird, bis ein Nachfahre von Einwanderern auf einen Platz an der Spitze des Élysée-Palast hoffen darf. Seinen Kunden sagt er an diesem speziellen Tag: „Heute sind wir alle Amerikaner.“ DOROTHEA HAHN