: Süße Teilchen am Strand
Lance Armstrong erweckt derzeit gern den Eindruck, dass ihn privates Wohlleben mehr interessiert als sein sechster Sieg bei der Tour de France. Die anderen Fahrer sollten sich nicht täuschen lassen
AUS SANTA BARBARASEBASTIAN MOLL
Das Städtchen Los Alamos in den Hügeln von Los Padres kann ohne Umbauten als Kulisse für einen Western herhalten. Eine staubige Hauptstraße, ein Gemischtwarenladen, ein Lokal, ein Hotel, alle vor über hundert Jahren aus Brettern zusammen gezimmert. Um die Mittagszeit ist es sogar im Januar hier heiß und wie ausgestorben – bis eine wilde Horde durch den Ort wirbelt. Fahrradketten krachen über Zahnkränze, leere Trinkflaschen klatschen auf die Straße, und nach einer Minute ist nur noch eine Staubwolke zu sehen.
28 Mann des US-Postal Teams machen seit zwei Wochen die entlegene Gegend rund um das Santa Ynez Valley im Santa Barbara County unsicher, es ist das erste gemeinsame Training der Truppe um Tour-de-France-Champion Lance Armstrong in der neuen Saison. Noch nie war der Tross so groß: Bei der Mannschaftspräsentation im Scandinavian Inn, in der dänischen Aussiedlerstadt Solvang, geht sogar der Platz auf der Bühne für alle 28 aus, von denen jeder hofft zu den neun zu gehören, die im Juli zur Tour dürfen.
Einige, die sonst immer da waren, sind allerdings nicht mehr dabei. Roberto Heras etwa, der Spanienrundfahrt-Sieger des vergangenen Jahres, der ein Angebot als Kapitän beim spanischen Nachfolgeteam von Once angenommen hat. Oder Christian van de Velde, ein Weggefährte Armstrongs der ersten Stunde. Man hat ihn mit 100.000 Dollar abgefunden, anstatt ihn noch zwei Jahre lang für insgesamt 200.000 Dollar zu beschäftigen. Die anderen 100.000 brauchte man für jüngere Leute. Beim Unternehmen sechster Tour-Sieg nimmt Lance Armstrong keine Rücksicht auf Sentimentalitäten.
Diesen sechsten Sieg hat Armstrong fest im Blick. Auch wenn jüngst sein Privatleben mehr sein Bild in den Medien bestimmte als seine Vorbereitung. Mit seiner neuen Gefährtin, der Rocksängerin Sheryl Crow, wurde er bei Basketballspielen und Kinopremieren in Hollywood fotografiert, und man konnte meinen, er habe derzeit anderes im Sinn als Radfahren. Um den Effekt zu verstärken, wiederholt Armstrong auch in Kalifornien, dass er Jan Ullrich für den Tour-Favoriten hält. „Das habe ich im Dezember schon einmal gesagt, und das hat sich nicht geändert, zumal ich seither am Strand sitze und süße Teilchen futtere“, parodiert er den Eindruck vom Rollentausch der beiden Tour-Rivalen. Der eifrige Ullrich hier, der laxe Armstrong da. Doch Armstrong weiß, dass ihm das nicht wirklich jemand abnimmt: „Ich weiß, was ich tue“, fügt er an.
Armstrong hat von Februar bis April ein dicht gepacktes Rennprogramm in Europa. Dann kehrt er für sechs Wochen in die USA zurück, um seinen Kindern und wohl auch seiner Freundin nahe zu sein, fährt aber Rennen in Georgia und New Mexico. Als letzten Schliff erkundet er wie stets im Juni die Tour-Strecke in den Alpen und Pyrenäen.
Sollte es nicht mit dem sechsten Sieg klappen, würde es Armstrong am liebsten 2005 noch einmal probieren. Allerdings läuft der Vertrag mit dem Sponsor Ende 2004 aus. Sollte die Post, die in den USA für ihr verschwenderisches Engagement im Radsport heftig kritisiert wird, aussteigen, muss Postal-Geschäftsführer Dan Osipow einen anderen Sponsor finden, der bereit ist, rund 20 Millionen Dollar auszugeben, sonst beendet Armstrong seine Karriere. Zu einer anderen Mannschaft möchte der 32-Jährige zum Ende seiner Laufbahn nicht mehr.
Doch darüber macht sich Armstrong derzeit wenig Gedanken: „Zu viel über die Zukunft zu grübeln, ist Zeitverschwendung“, sagt er. Lieber denkt er darüber nach, wie er in diesem Juli Jan Ullrich schlagen kann. „Dass Lance seit 2003 als angreifbar gilt“, glaubt Dirk DeMol, sportlicher Leiter der Postals, „gefällt ihm, das motiviert ihn.“ Wenn die Gegner ihn obendrein als Lebemann und Dandy wahrnehmen, gefällt ihm das noch besser. Doch sie sollten sich hüten.