Schizophrene Debatte

Die Klage der EU-Kommission gegen die Finanzminister Deutschlands und Frankreichs ist falsch. Geiz mag geil sein – verantwortliche Haushaltspolitik ist aber höchstens sparsam

Deutschland hinkt bei Bildungs- und Forschungsausgaben hinter allen großen Industrienationen her

Mit der Klage der Europäischen Kommission gegen die Finanzminister Deutschlands und Frankreichs erreicht die Schizophrenie der deutschen finanzpolitischen Debatte einen neuen Höhepunkt. Hans Eichel hat sich entschieden, einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung zu tun, prompt standen er und die deutsche Haushaltspolitik im Kreuzfeuer der Kritik – zu Hause und durch die Europäische Kommission. Dabei fielen viele starke Worte: Nach Angela Merkel versündigten sich Schröder und Eichel am Erbe der Deutschen Mark, Guido Westerwelle sah eine Katastrophe voraus, Edmund Stoiber die Bundesregierung in der Rolle des Totengräbers des Paktes und der Vizepräsident der Deutschen Bundesbank einen erheblichen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust für den Euro.

Doch der Euro ist keine fragile Währung. Gegenüber dem US-Dollar steigt er momentan auf fast Besorgnis erregende Höhen, ohne dass die Europäische Zentralbank die Zinsen senkt. Viele starke Worte entpuppen sich daher als Meinungsmache für den politischen Häuserkampf – als dieselben Stimmen das Steuerkonzept von Friedrich Merz begrüßten, das mindestens 40 Milliarden Euro Einnahmenausfälle für die öffentlichen Haushalte mit sich bringen wird. Auch Edmund Stoiber – in Bayern Supersparkommissar – beteiligt sich mit einem Vorschlag, der die Staatskassen „nur“ 15 Milliarden Euro kosten soll.

Doch als der deutsche Finanzminister sich der EU-Kommission nicht beugte, mit weiteren 6 Milliarden Euro Einsparungen das Haushaltsdefizit unter 3 Prozent zu drücken, gab es große Aufregung. Dabei tat Eichel dies in der richtigen Erkenntnis, dass weitere Einsparungen im Bundeshaushalt in der gegenwärtigen Wirtschaftslage nicht zur Konsolidierung der Staatsschulden, sondern zu höheren Defiziten führen. Er folgte den Empfehlungen namhafter deutscher Wirtschaftsforschungsinstitute und des Chefökonomen des Internationalen Währungsfonds. Denn volkswirtschaftlich hatte der an den Empfehlungen der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank ausgerichtete Kurs in Europa und in Deutschland zu einem schwachen Wachstum, höherer Arbeitslosigkeit und höherer Staatsverschuldung geführt.

Deutschland hatte auch Ratsempfehlungen aus Brüssel – insbesondere die vom Januar dieses Jahres – voll befolgt, etwa mit der Umsetzung der Agenda 2010. Das hat die EU-Kommission zuletzt im November schriftlich bestätigt. Kurz darauf sah sie es aber anders: Ein neues Berechnungskonzept des Haushaltsdefizits wird vorgelegt – nicht nachvollziehbar selbst für Experten. Die objektiv schlechteren Wirtschaftsdaten im ersten Halbjahr werden ignoriert.

Kommissionspräsident Romano Prodi telefonierte mit den Premiers der kleineren Staaten Europas, um sie zu einem Vorgehen gegen Deutschland und Frankreich zu bewegen – derselbe Prodi, der den Stabilitätspakt und die Maastrichtkriterien vor nicht allzu langer Zeit als blödsinnig („stupido“) bezeichnete. Derselbe Prodi, der Deutschland gedrängt hatte, im Rahmen der Osterweiterung und auch bei der Finanzierung der EU höhere Lasten zu übernehmen. Nun pocht er auf Haushaltsdisziplin in Deutschland, nachdem die Haushalte der EU im Jahr 2001 um 4,9 Prozent, 2002 um 2 Prozent und 2003 um 1,9 Prozent und für das kommende Jahr um 2,3 Prozent steigen. Deutschland als größter Nettozahler war immer dabei.

Was bewegt einen Mann wie Prodi zu einer solchen 180-Grad-Kehrtwende? Ist es völlig falsch daran zu denken, dass demnächst Italien auf der Anklagebank sitzen wird und er damit seinem Gegenspieler Berlusconi im italienischen Wahlkampf einen empfindlichen Schlag versetzen kann?

In der Anfangszeit des Euro ging es darum, exzessive öffentliche Defizite und damit hohe Inflationsraten zu vermeiden. Die Inflationsgefahr aber ist in der EU gebannt. Deutschland ist ein Hort der Preisstabilität. Mit 1,2 Prozent haben wir die niedrigste Preissteigerungsrate innerhalb der EU.

Das Hauptproblem Europas und vor allem Deutschlands ist das sehr schwache wirtschaftliche Wachstum. Ein starkes nachhaltiges Wachstum und mehr Konsolidierung der Staatsfinanzen bekommen wir aber nicht durch mehr Sparen, sondern durch eine Belebung der schwachen Binnennachfrage, das heißt durch mehr Masseneinkommen und mehr öffentliche Investitionen. Diese aber sind in Deutschland mittlerweile auf dem Tiefstand von 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts abgesackt. Sie sinken in den Städten und Gemeinden – Schulen, Krankenhäuser und Kulturzentren, aber auch andere öffentliche Daseinsvorsorge verkommen.

In einem Bereich sind unterlassene Investitionen kaum aufzuholen: im Bereich Bildung und Forschung. Was im Kindes- und Jugendalter an Bildung, Betreuung und Erziehung nicht geleistet wird, ist nicht mehr auszugleichen. Was an Forschungsausgaben nicht getätigt wird, bedeutet, dass viel versprechende junge Leute nicht forschen lernen und damit viel Wissens- und Innovationspotenzial für die Gesellschaft und die Wirtschaft verloren gehen.

Es ist völlig unverständlich, dass Deutschland, dessen internationale Wettbewerbsfähigkeit von der Bildung und von Innovationsvorsprüngen abhängt, in seinen Bildungs- und Forschungsausgaben mittlerweile allen großen Industrienationen hinterherhinkt. Wie alle diese dringenden Aufgaben mit sinkenden Steuereinnahmen nachhaltig und solide finanziert werden sollen, ist schleierhaft. Deswegen soll daran erinnert werden, dass der Pakt aus gutem Grund Stabilitäts- und Wachstumspakt heißt. Dass wird aber aus der öffentlichen Diskussion unverständlicherweise weitgehend ausgeblendet.

Was bewegt einen Mann wie Kommissions-präsident Prodi zu einer solchen 180-Grad-Kehrtwende?

Die EU-Kommission täte gut daran, eine Diskussion zu eröffnen, wie die drei wesentlichen Ziele – Preisstabilität, Wachstum und Konsolidierung der Staatsfinanzen – besser erreicht werden können. Dazu gibt es wichtige Vorschläge aus der Wissenschaft, unter anderem von der Sapir-Kommission und vom langjährigen „Finanzweisen“ Professor Alois Oberhauser. Alle Vorschläge haben gemeinsam, dass sie eine mittel- und langfristige Konsolidierung der Staatshaushalte, also eine nachhaltige Finanzpolitik, anstreben. Kurzfristige Einschnitte lehnen sie ab, die – so ihre berechtigten Warnungen – nur zu höherer Staatsverschuldung führen.

Das allerdings bedeutet, dass wir das Bild vom guten, sparsamen Hausvater klarstellen: Sparsam heißt nicht geizig – gut bedeutet, nicht nur für ein Jahr rechnen, sondern mittelfristig und auch für die künftigen Generationen. Auf den Staat übertragen heißt das: eine intakte Umwelt, eine Infrastruktur in gutem Zustand, eine ausgezeichnet ausgebildete Generation und geordnete Staatsfinanzen übergeben.

Geiz mag geil sein – verantwortlich ist er nicht. Ebenso wenig wie ein Wettlauf um die Wählergunst durch Steuersenkungen. SIGRID SKARPELIS-SPERK