: Liebestod
Der Kölner Künstler Gunter Demnig erinnert seit 2000 an die Opfer der NS-Zeit, indem er vor ihrem letzten selbstgewählten Wohnort Gedenktafeln aus Messing ins Trottoir einlässt. Bis Ende September 2007 hat er etwa 12.500 Steine in 277 Ortschaften verlegt.“ Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, sagt Gunter Demnig. Auf den Steinen steht geschrieben: HIER WOHNTE … Ein Stein. Ein Name. Ein Mensch. Stolperstein: Ein Dokumentarfilm über das größte dezentrale Denkmal und Kunstprojekt der Welt, und seinen Kern, das Gedenken der Lebenden an die von den Nazis deportierten und ermordeten Menschen. Die Filmemacherin Dörte Franke begleitet den Künstler auf seinen Verlegungstouren in Deutschland, Österreich und Ungarn. Deutschland 2008, Buch und Regie: Dörte Franke. Filmstart: 6. November 2008
Die Verfolgung Homosexueller während des Nazi-Regimes ist weitgehend noch unaufgearbeitet: Zwei Stolpersteine erinnern
VON DORION WEICKMANN
Der Wind, der an diesem 20. Februar 1939 durch die Berliner Mitte fegt, macht frösteln. Paula Cassel kämpft mit steif gefrorenen Fingern, als sie die Tür zu Max Matschkes Kostümverleih in der Mauerstraße 78 aufschließt. Gasgeruch schlägt ihr entgegen. Panisch reißt die Angestellte alle Fenster auf und läuft in die Küche, um den Gashahn zuzudrehen. Vor dem Herd findet sie ihren Chef und seinen Lebensgefährten Fritz Klauss leblos auf dem Boden. Sie liegen dicht aneinander. Paula Cassel verständigt die Polizei. Die Feuerwehr rückt an, Rettungssanitäter unternehmen Wiederbelebungsversuche. Vergeblich.
Gegen 9 Uhr betritt Oberwachtmeister Krische den Ort des Geschehens. Er erfährt von der Angestellten, dass Matschke und Klauss in Kürze eine Gefängnisstrafe antreten sollten. Krische durchsucht die Toten, findet bei Klauss einen Pass und ein Testament. Gegen 9.50 Uhr erstattet er seinem Vorgesetzten Bericht. Kriminaloberassistent Thamm seinerseits protokolliert abschließend: „Die Leichen wurden beschlagnahmt und dem Leichenschauhaus überwiesen. Selbstmordzählkarten sind angelegt.“
Die 23. Strafkammer am Landgericht Berlin dürfte den Freitod erleichtert zur Kenntnis genommen haben. Ein lästiges Verfahren hat sich auf diese Weise erledigt. Irgendein Beamter nimmt die Kladde mit dem Aktenzeichen 84 Js. Nr. 641/1938 und setzt ein dickes rotes Kreuz vor die Namen von Matschke und Klauss. Danach verschwindet der Faszikel in der Registratur.
Siebzig Jahre später legen allein diese zerfaserten Papiere im Berliner Landesarchiv Zeugnis ab von dem, was Matschke und Klauss widerfahren ist. Seite um Seite steigt aus den Akten eine Geschichte empor, die von Denunziation, Verfolgungswut und der Vernichtung dreier Existenzen handelt. Wie ein klitzekleiner Hinweis eine Polizei- und Justizmaschinerie ins Rollen bringt, die sich selbst als allmächtige Ordnungsinstanz begreift und jeden niederwalzt, der die völkische Moral des NS-Regimes unterläuft.
Max Matschke und Fritz Klauss sind dafür offenbar ideale Opfer. Sie gehören zu jenen „Unzüchtigen“, die, wie die Nazis hetzen, eine „Volksseuche“ verbreiten und die Fortpflanzung der „arischen Herrenrasse“ unterminieren. Schon 1933 sind die ersten Homosexuellen verhaftet worden, seit 1935 sorgen Gesetzesverschärfungen für eine totale Kriminalisierung der Homosexualität unter Androhung von Zwangskastration. Bis 1945 ergehen im Deutschen Reich etwa 50.000 Urteile wegen „widernatürlicher Unzucht unter Männern“.
Verglichen mit der historischen Aufarbeitung des Holocaust ist die Homosexuellenverfolgung ein weitgehend unterbelichtetes Kapitel der Geschichte. Die akademische Wissenschaft interessiert sich kaum für sie. Es bleibt Aktivisten oder Sexualforschern wie Andreas Pretzel von der Berliner Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft vorbehalten, in die Archive zu steigen und die nazistische Vernichtung der einst blühenden schwulen Subkultur zu dokumentieren.
In dieser Szene bewegten sich auch Max Matschke und Fritz Klauss, ehe eine anonyme Anzeige das Drama ins Rollen bringt. Am 10. Juni 1938 protokolliert Kriminalassessor Lübeck von der Berliner Staatspolizei: „Vertraulich wurde hier heute mitgeteilt, dass der berufslose Max Matschke, geboren am 27. 1. 1897 in Weissagk, wohnhaft in Berlin, Friedrichstrasse 34 bei Töpfer, homosexuell veranlagt sei und auch homosexuellen Verkehr unterhalten soll.“ Wer hat diesen Verdacht gemeldet? Ein Nachbar? Ein Kunde? Die Akten bewahren darüber Stillschweigen. Der Denunziant bleibt gesichtslos. Sein Name taucht nirgends auf.
Lübeck aber ist im Bild. Matschke, heißt es weiter, „empfängt des Öfteren Männerbesuche, mit denen er längere Zeit in seiner Wohnung verweilt. Zu seinen Freunden gehören: 1. Amtsgerichtsrat Fritz Klauss, wohnhaft in Lübbenau, 2. Apotheker Gustav Fischer, wohnhaft in Berlin-Wilmersdorf, 3. Vertreter Ehrlich, wohnhaft unweit des Bayerischen Platzes.“ Der Denunziant hat den Beamten mit Uhrzeiten und schlüpfrigen Details versorgt, auch was Matschkes „gutes wirtschaftliches Leben“ angeht, das sich zweifelsohne aus dunklen Kanälen speise. Für Kriminalassessor Lübeck ist die Sache klar: Verdacht auf „widernatürliche Unzucht“, strafbar gemäß §§ 175 Strafgesetzbuch. Einer Ermittlung steht nichts im Wege.
Vier Männer geraten auf diese Weise ins Visier der Gestapo. Einer immerhin kommt davon: Der Vertreter Hermann Ehrlich lässt sich nicht auffinden. Bleiben Matschke, Klauss und Fischer. Am 21. Juli 1938 schlägt die Polizei zu: Matschke und Fischer werden zur Vernehmung vorgeladen. Beide sind „geständig“, wie Lübeck notiert. Max Matschke – Beruf: selbständiger Kostümverleiher – gibt an, in den Jahren 1924 bis 1926 Karl Töpfer, Gustav Fischer und Fritz Klauss in der Schwulenkneipe „Klaußner“ kennengelernt und mit ihnen seitdem hin und wieder homosexuelle Kontakte gehabt zu haben. Mit Töpfer, der im Februar 1938 gestorben ist, wohnte er unter einem Dach. Mit den beiden anderen verbinde ihn eine „feste Freundschaft.“ Der Polizist bohrt nach allen Einzelheiten seines Sexuallebens – wie, wann, wie oft und mit wem?
Auch der siebzigjährige Apotheker Fischer wird gezwungen, sämtliche Intimitäten auszubreiten, und erklärt auf Vorhaltung: „Dass die von mir ausgeübten Handlungen mit Strafe bedroht sind, weiß ich. Da diese Handlungen aber im Allergeheimsten geschahen, war ich der Meinung, dass sie nicht strafbar sind.“ Im Allergeheimsten? So etwas kennt der NS-Staat nicht. Kriminalassessor Lübeck lässt Milde walten, was den alten Fischer angeht. Er beantragt Haftverschonung. Der zweite Beschuldigte wandert hinter Schloss und Riegel – „wegen der zu erwartenden hohen Bestrafung“ und „Verdunkelungsgefahr“. Angehörige seien nicht benachrichtigt worden, teilt Lübeck abschließend mit, „weil Matschke es nicht wünschte“.
Lübeck nimmt seine Sache sehr ernst. Während Matschke und Fischer in Einzelhaft sitzen, reist er persönlich nach Lübbenau, um Fritz Klauss dingfest zu machen. Am 25. Juli gegen 20 Uhr wird der Amtsgerichtsrat in seiner Wohnung gestellt. Im Vorfeld hat Lübeck den Bürgermeister von Lübbenau in das Ermittlungsverfahren eingeweiht. Der angesehene Richter ist also bereits an diesem Abend ein erledigter Mann. Ob er von den laufenden Untersuchungen weiß, ist unklar. In jedem Fall legt auch er sofort ein handschriftliches Geständnis ab: „Ich bin homosexuell veranlagt, Verkehr mit Frauen hatte ich nicht. Ich muss die Folgen auf mich nehmen.“ Belastungsmaterial finden die Beamten in Berlin und Lübbenau zur Genüge – Briefe, die Matschke und Klauss nicht vernichtet haben.
Fritz Klauss wird nach Berlin überstellt und einen Tag später bei der Staatspolizei verhört. Der Beschuldigte – „geb. 27. 8. 1881 in Stade“ – hat am Ersten Weltkrieg teilgenommen, Jura studiert und danach als Amtsgerichtsrat in Senftenberg, später in Lübbenau Karriere gemacht. Genug des Vorgeplänkels. Nunmehr schreitet Inquisitor Lübeck zur Tat und drängt den Delinquenten, seine sexuellen Vorlieben zu offenbaren, und zwar en détail: „Ich kämpfte, nachdem ich meine geschlechtliche Neigung ahnte, sehr dagegen an,“ antwortet Fritz Klauss zunächst ausweichend. Dann jedoch erzählt er von der Bekanntschaft mit Max Matschke, die rasch „in eine nähere Verbindung“ mündete: „Nachdem ich Matschke kennengelernt hatte, mußte ich bald die Wahrnehmung machen, daß Max Matschke mir auch als Mensch viel zu geben hatte. Er war mir infolge meiner geschlechtlichen Einstellung nicht nur Geschlechtspartner, sondern ein guter Lebensgefährte.“
Mag sein, dass diese Enthüllung die Vorstellungskraft Lübecks übersteigt. Aber die beschlagnahmten Briefe bestätigen schwarz auf weiß, was Fritz Klauss soeben ausgesagt hat: Ihre Verfasser sind einander von Herzen zugetan und haben ihr Leben geteilt, durch Höhen und Tiefen, Krisen und Glücksmomente. Es beginnt im Februar 1925 mit einer förmlichen Botschaft – „Sehr geehrter Herr Klauss“ – und endet am 11. Juli 1938, zehn Tage bevor die Gestapo zuschlägt: „L. Fr.!“, schreibt Matschke unter diesem Datum, „Schön waren die Stunden bei Dir und das Erleben in der sonnigen Natur, ich denke gerne daran!“ Die Zeit dazwischen überbrücken zwanzig Briefe und Postkarten, die Verbundenheit, Liebe und Mitgefühl dokumentieren.
Die Beziehung zwischen Matschke und Klauss wäre wohl auf immer im Staub des Archivs verborgen geblieben, hätte nicht Andreas Pretzel 2005 eine Anfrage bekommen: Zwei Stolperstein-Paten meldeten sich, um jene kleinen, messingfarbenen Quader zu stiften, die der Kölner Künstler Gunter Demnig für Opfer der NS-Diktatur verlegt. Über 16.000 Stolpersteine liegen inzwischen in Europa, jeder von ihnen ein Mahnmal, das am letzten Wohnort eines Toten an seine Auslöschung erinnert. Pretzel, der sich seit Jahren sukzessive durch die einschlägigen Akten wühlt, wurde fündig. Er stieß auf die Strafverfolgungssache mit dem Aktenzeichen 84 Js. 641/1938 und schlug den Paten die beiden Männer vor, die lieber gemeinsam in den Tod gingen, als mit dem rosa Winkel gebrandmarkt zu werden.
Schon wenige Monate nach der ersten Begegnung, im Sommer 1925, sind Max Matschke und Fritz Klauss ein Paar geworden. Die beiden anderen Liebhaber, der Apotheker Fischer ebenso wie Matschkes Geschäftspartner Töpfer, wissen Bescheid über das Paar. Eifersuchtsszenen gibt es deshalb offenbar nicht. Schnell gewinnt die Verbindung einen eigenen Rhythmus: Alle paar Wochen besuchen Matschke und Klauss einander, dazwischen schreiben sie sich regelmäßig. Die Korrespondenz kreist um Alltäglichkeiten, schöne Reisen, gutes Essen, Theater- und Opernbesuche (in weiblicher Begleitung), Erkältungen, Nierenschmerzen und Luftschutzübungen. Als Karl Töpfer 1937 schwer erkrankt, bewährt sich Fritz Klauss als seelische Stütze. Matschke kümmert sich aufopferungsvoll um seinen alten Freund, verhandelt mit Ärzten, sorgt für Krankenwachen. Nach Töpfers Tod organisiert er ein fulminantes Begräbnis: Der Pfarrer spricht salbungsvoll zu den zahlreichen Trauergästen, ein Kammermusiktrio musiziert am Grab.
Die meisten Zeitgenossen haben für dieses anscheinend harmonische Herrenquartett sicher nur Verachtung übrig. Matschke und Klauss wissen, wie schmal der Grat ist, auf dem sie sich bewegen. Davon zeugt der Brief, den Matschke am 12. Februar 1938 abschickt: „L. Fr.! Morgen ist unser Gedenktag? Wie viele Dornen liegen auf unserem zurückgelegten Weg? Für Deine Liebe und Treue auf vielen Wegen danke ich Dir.“
Ein halbes Jahr später gehört die Zweisamkeit der Vergangenheit an. Nach seiner Vernehmung wird auch Klauss verhaftet und dem Gefängnis in Moabit überstellt. Zwei Tage darauf kommt er auf freien Fuß, allerdings gegen strikte Auflagen: Jeder Ortswechsel ist den Behörden anzuzeigen. In den nächsten Monaten nimmt er in verschiedenen Berliner Pensionen Logis. Nach Lübbenau, so viel ist klar, führt kein Weg zurück. Sein Vorgesetzter, der Cottbuser Landgerichtspräsident, hat längst seinerseits ein Verfahren gegen ihn eröffnet. Auf den Richterstuhl wird Fritz Klauss nie mehr zurückkehren.
Unterdessen hat sich Max Matschke einen Rechtsbeistand besorgt. Dr. Walter Sachse, Anwalt und Notar, übernimmt sowohl seine Verteidigung wie auch die von Gustav Fischer. Der Advokat versteht sein Handwerk. Er erreicht, dass Matschke binnen kurzem aus der Untersuchungshaft freikommt. Fortan lässt er nichts unversucht, die Köpfe seiner Mandanten aus der Schlinge zu ziehen. Auch vor der Verunglimpfung anderer verfolgter Minderheiten schreckt er nicht zurück.
Vor 1933: In der Weimarer Republik hatte es noch eine Erstarkung der bereits im Kaiserreich gegründeten Bürgerrechtsbewegung der Schwulen und Lesben gegeben. 1929 empfahl der Rechtsausschuss des Reichstages eine Aufhebung der Strafbarkeit homosexueller Handlungen unter Erwachsenen. Die Stimmengewinne der Nationalsozialisten und die Krise der Weimarer Republik verhinderten eine Umsetzung dieses Beschlusses. Paragraf 175: war bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts im preußischen Recht verankert und stellte die „Unzucht zwischen Männern“ unter Strafe. Die Nationalsozialisten aber waren die Ersten, die ihn mit brutaler Konsequenz anwendeten. 1935 wurde er durch Ergänzungen wesentlich verschärft. Lothar Machtan: Der Professor für Neuere Geschichte versucht in seinem Buch „Wer war Hitler?“ (Berliner Verlag, 2001) zu beweisen, dass der Führer selbst schwul war. Zahlen: Etwa 100.000 Schwule wurden zwischen 1933 und 1945 in Deutschland inhaftiert. Um die 15.000 kamen in Konzentrationslager, wo sie Opfer von Umerziehungsmaßnahmen, Kastrationen u. a. wurden. Weibliche Homosexualität wurde weitgehend ignoriert. Der „Rosa Winkel“: Wegen Homosexualität in KZs eingewiesene Männer mussten als Kennzeichen den „Rosa Winkel“ tragen, der sie auch vor ihren Mithäftlingen als „anders“ brandmarkte. Pervers: Der dänische Arzt und SS-Sturmbannführer Carl Vaernet führte 1944 im Konzentrationslager Buchenwald medizinische Experimente an Homosexuellen durch. Mit der Implantation künstlicher Hormondrüsen in der Leistengegend wollte er Homosexualität „heilen“. NMG
Im Vorfeld der Hauptverhandlung, die auf den 16. September 1938 anberaumt wird, verfasst Sachse einen Schriftsatz, der das Vorleben seiner Mandanten ins rechte, nämlich nationalsozialistische Licht taucht. Fischer wird darin kurzerhand zum in der Wolle gefärbten Nazi, der nur aus Angst vor Repressionen seitens jüdischer Kunden nicht der NSDAP beigetreten sei. Max Matschke dagegen leide, so Sachse, an den Folgen einer schrecklichen Kindheit. Der uneheliche Sohn eines Rittergutsbesitzers und einer Magd habe von klein auf Armut und körperliche Züchtigung erlebt. Später schlug sich der Heranwachsende als Hausdiener oder Speditionsarbeiter durch, bis er 1916 eingezogen und an die Westfront abkommandiert wurde.
Im Frühjahr 1919 zog Matschke, wie Sachse schildert, nach Berlin, ging zur Sicherheitspolizei und kam – Ironie der Geschichte – auf diese Weise mit der Homosexuellenszene in Berührung. 1923 quittierte er den Dienst, „nachdem er sich seiner erblichen homosexuellen Belastung klar geworden war“. In den nächsten Jahren vagabundierte er umher, bis der Kostümverleiher Karl Töpfer „seinem Leben eine feste Wendung gab.“ Matschke zog zu Töpfer, arbeitete in dessen Geschäft und wurde sein Kompagnon. Gemeinsam statteten sie zwölf Jahre lang Filmproduktionen aus. Diven wie Zarah Leander und Brigitte Horney gingen bei ihnen ein und aus. Vor diesem Hintergrund formuliert der Anwalt abschließend: „Die Filmherstellung benötigt die Kenntnis des Matschke,“ der im Übrigen, genau wie Gustav Fischer, „sehr national gesinnt“ und „für die Idee des Führers eingenommen“ sei. Er plädiere also auf Einstellung des Verfahrens.
Aber Landgerichtsdirektor Lempke, der die Sitzung der 23. Großen Strafkammer am 16. September leitet, ist zum Durchgreifen entschlossen. Die Delinquenten sind geständig, Zeugen ohnehin nicht geladen. Rasch verkündet Lempke das Urteil: Acht Monate Gefängnis für Matschke, jeweils fünf Monate für Fischer und Klauss. Das bedeutet für alle drei Parteien den bürgerlichen Ruin. Noch geben sie nicht auf. Ein Gnadengesuch, über das der Reichsjustizminister befinden muss, könnte sie retten. Sachse bringt entsprechende Petitionen auf den Weg und erreicht, dass die Strafvollstreckung vorerst ausgesetzt wird. Abgesehen davon, dass Matschke sein Büro von der Berliner Friedrich- in die Mauerstraße verlegt, ziehen die folgenden Wochen scheinbar ereignislos ins Land. Doch Rechtsanwalt Sachse ahnt, dass das Damoklesschwert nicht gebannt ist, und überredet seinen Mandanten, sich psychiatrisch begutachten zu lassen – wegen Verdacht auf „Hirn-Syphilis“. Ein solcher Befund wäre ein handfester Hafthinderungsgrund.
Die Würfel sind freilich längst gefallen. Die Gnadengesuche werden abgelehnt. Am 15. Februar 1939 teilt die Generalstaatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin Max Matschke und Fritz Klauss per Einschreiben mit, dass sie innerhalb einer Woche ihre Haftstrafen anzutreten haben. Fünf Tage danach, am 20. Februar 1939, geht ein Umschlag in der Kanzlei Sachse ein. Darin findet der Anwalt 200 Reichsmark und ein paar Zeilen. Es ist ein Abschiedsbrief.
Noch am gleichen Tag setzt sich der Jurist hin und tut, was ihm der Absender aufgetragen hat. Er unterrichtet die Generalstaatsanwaltschaft vom Ableben seines Mandanten. Einmal mehr zeigt sich, dass Sachse etwas von Strategie versteht. Er selbst kann der Anklagebehörde nicht vorwerfen, dass sie zwei Menschenleben auf dem Gewissen hat. Das wäre vermessen und unklug. Stattdessen lässt er die Opfer für sich selbst sprechen. Was sie zu sagen haben, übermittelt Sachse den Adressaten in Form eines ausführlichen Zitats: „Wenn Sie, Herr Doktor Sachse, erfahren haben, dass ich und Amtsgerichtsrat Klauss lieber den Tod als das Schlimmste und Grässlichste, was es für uns auf der Welt gibt, das Gefängnis, gewählt haben, dann bitte ich Sie, die Staatsanwaltschaft schnell zu benachrichtigen. Halten Sie die Haftpapiere auf. Es ist ja nicht notwendig, dass sie noch sichtbar werden, denn wir haben unsere ganzen Schriften vernichtet und wollen ja auch nur einen Unfall vortäuschen. Die Staatsanwaltschaft hat sich getäuscht, wenn sie glaubte uns so hart strafen zu können. Ich wünschte nur, dass die Herren auch einmal solch einen ruhigen Tod haben werden wie wir.“
Dies ist der Schlussakkord. Deutlicher darf Sachse nicht werden. Aber man ahnt, was er von den Methoden eines Staates hält, der seine Bürger willkürlich kriminalisiert. Max Matschke und Fritz Klauss haben, das sagt der Abschiedsbrief, bis zuletzt um ihre Würde gerungen. Sie wollten nicht, dass alle Welt von ihrer Schmach erfährt, von den schändlichen Verhören, den erniedrigenden Prozeduren vor Gericht. Ihr Leidensgenosse Gustav Fischer erhält zwar schließlich Haftverschonung, doch seine Reputation ist zerstört. Im März 1939 zitiert ihn die Reichsapothekerkammer vor Gericht und bringt ihn um seine Konzession.
Vor dem Haus in der Berliner Mauerstraße 78, in dem am 20. Februar 1939 Max Matschke und Fritz Klauss gemeinsam in den Tod gingen, liegen die beiden Stolpersteine, die symbolisch an sie erinnern. So sind diese Männer, die sich verstecken, verstellen, verbiegen mussten, heute für jedermann sichtbar das, was sie sein wollten, aber nicht durften: ein Liebespaar wie andere auch.
DORION WEICKMANN ist promovierte Historikerin, sie arbeitet und lebt in Berlin