im reich der lebenden toten von FRANK SCHÄFER
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Pünschel und ich joggten langsam durch den Park, als wir von zwei drahtigen Rentnern schon zum zweiten Mal überrundet wurden. Diesmal machten sich die beiden Alten einen Spaß daraus und zogen noch mal an zum Schlusssprint. Und ich dachte, wir stünden auf der Stelle. Pünschel hörte auch tatsächlich sofort auf.

„Das hat doch alles keinen Zweck“, schnaufte er fatalistisch und sank nieder auf eine von Vögeln voll geschissene Parkbank. „Am Anfang ist es immer hart“, nickte ich, „wenn man das erst mal zwei Wochen täglich gemacht hat, geht alles ganz leicht.“ – „Ich soll diesen Mist täglich … – wenn du krank bist, musst du zum Arzt gehen!“

Ich wusste von Anfang an, dass sein Wahn – „jetzt wo der Sommer vor der Tür steht, ein bisschen laufen an der frischen Luft hat noch keinem geschadet!“ – ein ephemeres Phänomen bleiben würde. Und deshalb lächelte ich zufrieden. Joggen ist wirklich nur etwas für Sachbearbeiter, die ihre Freizeit dem Beruf anpassen wollen.

„Es gibt da ja auch die Theorie“, sagte er wichtig, „dass jedem Menschen nur eine bestimmte Menge Bewegungsenergie zur Verfügung steht. Wenn die aufgebraucht ist, dann macht er den Aal …“ – „Du meinst, wir sollten sparsam damit umgehen?“

„Ach, keine Ahnung. Ich war doch letzte Woche mal wieder bei meiner Oma im Altersheim. Die wird jetzt langsam ein bisschen tüddelich, vor zwei Jahren hat sie noch angefangen ‚Finnegans Wake‘ zu lesen, im Original, meinte dann aber bei der Hälfte, sie sei alt genug und müsse sich nichts mehr beweisen, und als dann die Pflegerin mal vergessen hatte, eine neue Rolle Toilettenpapier zu bringen, da wollte sie nicht noch ein weitere Mal drum bitten und … naja, die Kriegsgeneration hat ja noch ganz andere Sachen benutzt …“

Eine junge, sehr verschwitzte Läuferin knechtete sich an unserer Bank vorbei, Pünschel sah ihr versonnen hinterher und lockerte die Oberschenkel.

„Kurz bevor ich bei ihr war, hatte sie gerade so eine Schwächephase und glaubte, dass mein Vater – ihr Sohn – von einer Horde Neonazis massakriert worden sei. ‚Es kam gestern im Fernsehen‘, erzählte sie unter Tränen meiner Mutter, und sie ließ sich nicht davon abbringen, weinte und weinte. Deshalb sollte mein Vater mitkommen, als ich sie besuchte, um ihr das Gegenteil zu beweisen, aber sie blieb sogar dabei, als sie ihn leibhaftig vor sich sah. Das sei ja alles nett von uns, dass wir so viel Aufwand trieben, um sie zu beruhigen, aber sie habe nun mal gesehen, was sie gesehen habe. Und auf ihre Augen könne sie sich nun immerhin schon seit 89 Jahren verlassen. Da rastete mein Vater aus. ‚Ich bin nicht tot, Mama, verdammt noch mal, ich bin’s, dein Sohn, ich lebe!‘

Aber sie fing nur noch lauter an zu weinen. Mein Vater blickte hilfesuchend zur Decke, nahm die mitgebrachten Blumen aus der Vase, legte sich langsam aufs Bett, hielt den Strauß mit beiden Händen vor der Brust und schloss die Augen. ‚Mein Gott, dann bin ich eben tot, hier bist du nun zufrieden, Mama, ich bin tot, tot, tot.‘ Na, da musste meine Oma dann aber doch kichern. Sie ist zwar nicht mehr ganz richtig im Kopf, aber sie erkennt schon noch ganz gut, wenn etwas komisch ist, hähä …“