: Im Gedenken sollte man von einer Selektion absehen
Noch ehe das zentrale Mahnmal in Berlin ans Netz des Gedenkens geht, ist es Zeit, den infantilen Streit der einzelnen Opfergruppen zu beenden. Das anscheinend unvermeidliche Mal muss für alle Opfer der Nazis offen sein. Ein klares Wort zum heutigen Holocaust-Gedenktag
VON RAFAEL SELIGMANN
Bei Kindern lassen sich Stolz- und Imponiergehabe noch unverblümt beobachten. Besonders stolz sind die guten Kleinen, wenn es ihnen gelingt, ihre Spielkameraden, also ihre Rivalen, auszustechen. Eine andere Form der erhöhten Genugtuung ergibt sich nach erlittenem Leid. Gegipste Gliedmaßen oder Narben nach einer Blinddarmoperation werden allenthalben als Schmerztrophäen präsentiert.
Als so genannte Erwachsene lernen die meisten, ihre Gefühle zu kontrollieren. Doch der Stolz auf widerfahrenen Schmerz und der Triumph über den Konkurrenten bleiben bestehen wie ehedem in der verklärten Kinderzeit. Manche verdecken diesen Stolz subtil, andere infantilere Charaktere wie Lea Rosh können es sich selbst als älteres Mädel nicht verkneifen, darin zu schwelgen.
Gegenwärtig findet in Deutschlands Hauptstadt ein abnormer Wettkampf um vergangenes Leid und heutiges öffentliches Prestige statt. Siegestrophäen sind eigenständige monumentale Verewigungen der Opfergruppen.
Angefangen hatte das Opferrennen harmlos. Hehre Motive mögen ausschlaggebend gewesen sein. Damals. 1989 hatte sich unter dem Patronat Lea Roshs ein Förderkreis konstituiert, der für die Errichtung einer zentralen Gedenkstätte für die ermordeten Juden Europas in Berlin eintrat.
Die Begründung für dieses Bestreben lieferte der Vergangenheitsnostalgiker und Pädagoge Micha Brumlik: „Wer in Deutschland öffentlich und feierlich des Holocausts gedenken will, muss heute weite Reisen auf sich nehmen: nach Jerusalem, nach Oświęcim, nach Washington.“
Das war und bleibt Blödsinn. Die Logik funktioniert umgekehrt. Oranienburg, Dachau, Bergen-Belsen und andere Konzentrationslager liegen eben nicht in Jerusalem oder Washington, sondern mitten in unserem Land. Keine deutsche Stadt, kaum eine größere Ortschaft, in der Juden nicht denunziert, misshandelt und am Ende in den Tod deportiert wurden. Überall wurden Synagogen zerstört, jüdische Häuser demoliert. Von dieser Geschichte blieben Israel und die Vereinigten Staaten verschont. Gedenkt man dort „öffentlich und feierlich“ – nicht jeder hat das Bedürfnis, dies vor aller Augen und Kameras zu tun – der Opfer des Völkermords, ist man in der Tat auf einen repräsentativen Schauplatz angewiesen.
Die israelische Gedenkstätte soll „an die sechs Millionen Juden erinnern, die den Märtyrertod durch die Nazis und ihre Helfer erlitten“. Zu diesem Zweck soll Jad Vaschem „einen Gedenktag für den Kampf und die Vernichtung des jüdischen Volkes in Israel und im Bewusstsein des ganzen jüdischen Volkes als nationalen Trauertag verwurzeln“. Das angestrebte Ziel wurde mit Übersoll erfüllt. Nicht nur „das jüdische Volk“, auch eine Reihe westlicher Demokratien sahen sich zu ähnlichen Maßnahmen gedrängt. Zu Beginn der Neunzigerjahre errichteten die Vereinigten Staaten, die sich mit Mahnmälern für die umgebrachten Indianer und versklavten Afrikaner schwer tun, in Washington eine zentrale Holocaust-Gedenkstätte. In Los Angeles entstand das Simon-Wiesenthal-Center. Dessen Gründer, Rabbiner Mavin Hier, posaunt das Motto seines Wirkens in alle Welt: „Für uns hier (in den USA), meine Freunde, für uns ist jede Nacht Kristallnacht.“
Bei dieser motivierenden Konkurrenz wollte Lea Rosh nicht nachstehen. In ihrem Förderkreis versammelte sie neben honorigen Männern wie Willy Brandt und Edzard Reuter auch schillernde Figuren wie Udo Lindenberg, den Wiener Bildhauer Alfred Hrdlicka, SED/PDS Hans Modrow etc. Das massive Drängen des Förderkreises hatte schließlich den Erfolg. 1999 beschloss der Bundestag mit deutlicher Mehrheit die Errichtung einer zentralen Gedenkstätte für die ermordeten Juden. Die Abgeordneten mochten nicht in den Geruch des Antisemitismus geraten, vor allem nicht in den Vereinigten Staaten und in Israel.
Ehe die Bauarbeiten aber begannen, meldeten auch Vertreter anderer Opferzirkel der Nazis ihre Ansprüche an. Homosexuelle, Sinti und Roma, Behinderte, Deserteure, Kommunisten, politisch Verfolgte – alle wollten, dass ihrer Gruppe angemessen, das heißt möglichst repräsentativ, gedacht werde. Anfangs waren die unterschiedlichen Verbände bereit, sich an der zentralen Holocaust-Gedenkstätte für die ermordeten Juden zu beteiligen. Der Vorsitzende der Sinti und Roma, Romani Rose, flehte geradezu um die Gnade der späten Beteiligung an der Schoah-Gedenkstätte. Doch der damalige Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignaz Bubis, lehnte dieses kecke Ansinnen ab. Der Zentralratspräsident verwechselte die deutsche Gedenkstätte mit einem jüdischen Friedhof. Und da hatte ein Goi nichts zu suchen.
Unterdessen versuchte der Historiker Eberhard Jäckel mit einer ethisch fragwürdigen, wissenschaftlich absurden „Argumentationshilfe“ zu begründen, warum die zentrale Holocaust-Gedenkstätte allein für jüdische Opfer reserviert sein sollte. Die diversen Opfergruppen fanden sich mit der deutsch-jüdischen Zurückweisungssymbiose ab und versuchten, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Mittlerweile streiten knapp zwei Dutzend Opferzirkel um eine eigenständige Gedenkstätte im Zentrum Berlins.
Es gibt verletzende Auseinandersetzungen. So fühlen sich etwa Lalleri und Manusch, die sich als Zigeuner verstehen, vom Zentralrat der Sinti und Roma übergangen. Die Vertriebenen wiederum streben ein eigenes Gedenkzentrum an. Dabei wollen sie auch an den Völkermord an den Armeniern und diverse Vertreibungen auf dem Balkan erinnern. So praktiziert man präventive Völkerverständigung.
In Berlin wird die zentrale Gedenkstätte für die ermordeten Juden trotz diverser Tollereien Lea Roshs, wie der provozierenden Parole, der Holocaust habe nicht stattgefunden, oder dem überhitzten Streit um die Teilnahme der Degussa, deren Tochterunternehmen Degesch einst das Giftgas Zyklon B produziert hatte, fertig gestellt werden. Die KZ-Gedenkstätten allenthalben in Deutschland werden verfallen, weil die nötigen Gelder nach Berlin fließen werden. Die Vertreter der unterschiedlichen Opfergruppen werden weiter darauf dringen, ihre Anliegen in Stein zu meißeln. Schließlich müssen Funktionäre ihre Daseinsberechtigung liefern.
Noch ehe die zentrale Gedenkstätte am Brandenburger Tor ans Netz des Gedenkens geht, ist es Zeit, den infantilen Streit der einzelnen Opfergruppen zu beenden. Das scheinbar unvermeidliche Mahnmal muss für alle Opfer der Nazis offen sein. Der Völkermord an den Juden war einmalig. Aber das waren die Euthanasie und der Massenmord an den Zigeunern ebenfalls. Zumindest im Gedenken sollte man von einer Selektion absehen.