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Archiv-Artikel

Das Wunder von Essen

Das bundesrepublikanische Bild der Nazizeit verändert sich – langsam, aber stetig. Das Antisemitismus-Tabu funktioniert. Kulturell hingegen pluralisiert sich das Gedächtnis

Die NS-Zeit scheint als Arena deutscher Selbst-verständniskämpfe langsam verabschiedet zu werden

Eigentlich fand es kaum jemand in der FDP korrekt, wie sich Jürgen Möllemann in dem Streit mit Michel Friedman aufführte. Doch vor den TV-Kameras blieben die Kritiker stumm. Sieger kritisiert man nicht. Und Möllemann hatte, so die Wahlforscher, Rechtswähler an die FDP gebunden und der Partei zu fast zehn Prozent verholfen.

Als 2003 Michel Friedmans Prostitutionsaffäre ans Licht kam, lief anfänglich alles wie gehabt. Das Publikum schaute nicht ohne Schadenfreude zu, wie ein Promi von seinem hohem Ross stürzte. Nicht normal waren indes die verdrucksten, aber unmissverständlichen Anspielungen in Boulevardblättern, die sich plötzlich häuften. Es schien geradezu ein Sport zu sein, Geld, Geilheit und Friedmans Judentum in immer neuen Überschriften zu assoziieren – natürlich nur indirekt. Die üblichen linksliberalen Kommentaren waren empört, der Zentralrat der Juden protestierte, der Presserat rügte. Mehr geschah nicht.

Im Herbst 2003 wurde jene Rede des CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Homann ruchbar, der die Juden als „Tätervolk“ bezeichnete. Wieder waren die linksliberalen Kommentatoren empört, wieder geschah wenig. Angela Merkel gab sich mit einer halbherzigen Distanzierung Homanns zufrieden. In der Fraktion, so hieß es, hätte ein Rauswurf Homanns keine Chance für eine Mehrheit gehabt.

Es war, wie man weiß, anders. Möllemanns Spiel mit den Ressentiments brachte der FDP keine Stimmen ein, sondern eine Krise. Die Friedman-Affäre wurde so rational verhandelt, wie es in einer vollständig mediatisierten Gesellschaft möglich ist. Der Fall Homann bescherte der Union eine – halb von außen erpresste – Abgrenzung nach rechts, hinter die künftig wohl kein Weg zurückführt. Angela Merkel hat die Union dabei auf die Formel der „Singularität des Holocaust“ festgelegt – und damit die Habermas-Linie im Historikerstreit übernommen. Wer Anfang der 90er prophezeit hätte, dass Habermas zum Stichwortgeber der Union wird, den hätte man für einen Träumer gehalten.

Diese Fälle zeigen, dass eine alte Forderung der Linken offenbar Wirklichkeit geworden ist: nämlich die nicht nur rhetorische, sondern mit Sanktionen belegte Tabuisierung antisemitischer Regungen. Das Antisemitismus-Tabu ist nicht neu. Die Alliierten haben es in den 50ern gegen eine widerstrebende deutsche Öffentlichkeit durchgesetzt. Neu ist, dass es so gut funktioniert. Und neu ist die geschichtspolitische Linie, die deutsche Entschuldungsversuche ausschließt. (Die trostlose Merz-Affäre ist dabei eher die Ausnahme von der Regel.)

Diese Entwicklung ist mehr als moralischer Gewinn. Eine Elite, die über ein funktionstüchtiges Immunsystem gegen Antisemitismus und Geschichtsklitterungen verfügt, streut keine versteckten Botschaften aus, die andere drastisch umsetzen. Man erinnere sich an die rassistischen Pogrome Anfang der 90er, als die Gewalttäter nicht grundlos das Gefühl hatten, an dem gleichen Projekt zu arbeiten wie die Politiker: dem Verschwinden der Asylbewerber.

Noch etwas ist neu: Der bange Blick deutscher Politiker auf die „US-Ostküste“ scheint zu verschwinden. Die Delegation des eigenen Gewissens an das „Ausland“ ist ein Auslaufmodell. Die hiesige Elite scheint ihr Überich nicht mehr zu exterritorialisieren und auf Protestnoten des American Jewish Committee angewiesen zu sein, um zu verstehen, wo es langgeht. Sie ist erwachsener geworden.

Kurzum: All das ist eine überfällige Anhebung des Niveaus der politischen Kultur – allerdings ist es kein Zufall, dass dies jetzt geschieht. Die wirksame, lückenlose Tabuisierung antijüdischer Klischees ist nicht zufällig in dem Augenblick durchsetzbar, in dem die von der NS-Zeit geprägte politische Generation endgültig abgetreten ist. Es ist ein Sieg – aber über einen Gegner, der die Bühne verlassen hat. Ein Sieg, der nicht viel kostet.

Damit ist das Bild der bundesdeutschen Erinnerungslandschaft aber nicht komplett: Die „Linke“ hat im politischen Diskurs gewonnen. Gleichzeitig scheint der Holocaust als Gravitationszentrum jeder Geschichtserzählung an Gewicht zu verlieren. Der Holocaust bleibt das zentrale Ereignis der deutschen Geschichte, als negative nationale Sinnstiftung bleicht er aber aus. Indizien dafür sind etwa die Erfolge von Günter Grass’ Roman „Im Krebsgang“, Jörg Friedrichs zweifelhafter Beschreibung der alliierten Bombardierungen und Sönke Wortmanns „Wunder von Bern“. Deutsche tauchen darin, grob gesagt, als Opfer auf. Die Geschichtsbilder werden pluraler. Der Kanon erweitert sich.

Damit geht, anders, als die antideutsche Linke meint, bislang kein geschichtspolitischer Backlash einher. Der Vater, der im „Wunder von Bern“ aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrt, verdrängt den Auschwitz-Häftling keineswegs aus dem kollektiven Gedächtnis. Offenbar ist auch die Opferkonkurrenz, in der es die Deutschen in den 50ern zu verblüffenden Höchstleistungen brachten, zum Stillstand gebracht.

Und doch muss diese Pluralisierung widersprüchlich verlaufen. Diesen Zwiespalt zeigt am genauesten „Das Wunder von Bern“. Viele Kritiker haben darin schlicht einen Entschuldungsversuch gesehen, eine naive Allegorie der Bundesrepublik, die im WM-Sieg 1954 gipfelt. Doch dieses Urteil ist zu sehr in den Generations- und Ideologieprägungen der 68er fixiert. Denn der Film ist ein Märchen, das erzählt, was gewesen wäre, wenn in den deutschen Wohnzimmern der 50er kein bleiernes Schweigen geherrscht hätte. „Das Wunder von Bern“ träumt, dass die Söhne die Väter entnazifizieren. Das wahre Wunder geschieht nicht in Bern, sondern in der heimischen Küche in Essen. Der Vater beginnt zu reden – anstatt Schuld und erlebten Schrecken wortlos an die Kinder weiterzugeben. Diese Szene ist der utopische Kern des Films, deshalb ist er für neurechte Deutungen untauglich. Doch diese Fantasie hat einen hohen Preis: nämlich die Unterdrückung der historischen Wirklichkeit. Sönke Wortmann kann nicht zeigen, dass das deutsche Publikum in Bern „Deutschland, Deutschland über alles“ grölte. Denn dann würde er aus dem Traum, wie es hätte sein können, erwachen.

Anfang der 90er hätte niemand prophezeit, dass Habermas zum Stichwortgeber der Union wird

In den Geschichtserzählungen dürfen Deutsche Opfer sein, – politisch scheint das Antisemitismus-Tabu endlich zu wirken. Diese Phänome sind nur oberflächlich betrachtet ein Widerspruch. Im Grunde sind sie ähnlich – beides Effekte der Historisierung der Nazizeit. Die NS-Zeit wird als Arena deutscher Selbstverständniskämpfe langsam verabschiedet. Deshalb beginnen die „rechten“ und die „linken“ Muster zu verschwimmen. Deshalb kann die CDU wie Habermas reden, Grass deutsche Opfer beschreiben und ein Nachfahre der Autorenfilmer sich die 50er-Jahre zurechtträumen.

Vermischte Nachrichten. Die gute lautet, dass sich die versteinerten Fronten auflösen. Die schlechte, dass dabei eine Menge deutscher Versöhnungskitsch entstehen kann.

STEFAN REINECKE