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Archiv-Artikel

„Die kann alles“

Sie ist jung und für eine Eisschnellläuferin geradezu grazil. Die Tschechin Martina Sáblíková wird auch in dieser Saison über die langen Distanzen kaum zu schlagen sein

BERLIN taz ■ Martina Sáblíková ist ein Rätsel. Man blickt irritiert auf die Anzeigetafel, dann auf sie auf der Eisfläche und dann in ihre biografischen Daten. Ihre Zeit, ihre Herkunft, ihre Statur und ihr Alter. Irgendwie passt keines der Puzzleteile zusammen, um das Bild einer vermeintlich perfekten Eisschnellläuferin zusammenzusetzen, die über die 3.000- und 5.000-Meter-Strecken dominiert. Mit 21 ist Sáblíková noch weit entfernt von dem für diese Distanzen auf Ende zwanzig taxierten optimalen Athletenalter. Sie kommt aus einem Eisschnelllaufentwicklungsland. Aus Tschechien, wo es nicht eine 400-Meter-Bahn gibt. Die nationalen Meisterschaften werden auf zugefrorenem Gewässer ausgetragen. Und mit der Größe von 1,71 und dem Gewicht von 53 Kilo ist sie so grazil gebaut wie keine andere Spitzenläuferin. Die gleiten mit wesentlich muskulöseren Körpern übers Eis.

Am Samstag beim ersten Weltcuprennen über 3.000 Meter in Berlin begann alles, wie es zuletzt aufgehört hatte. Der rechte Arm der zierlichen Martina Sáblíková schnellte nach dem Überqueren der Ziellinie nach oben. „Ich habe mich gefreut, weil ich zwei Sekunden schneller gewesen bin, als ich mir vorgenommen hatte“, erklärte hernach die Siegerin (4:03.70). Der Kampf gegen die eigenen Zeitvorgaben scheint der Tschechin die fehlenden Gegnerinnen zu ersetzen. Denn die ließ sie noch weiter zurück. Die Deutsche Daniela Anschütz-Thoms traf als Zweite mit einem Rückstand von 3,38 Sekunden ein, und die einst so erfolgreiche Claudia Pechstein war gar knapp 5 Sekunden langsamer und landete auf dem fünften Rang.

In den letzten beiden Jahren hat Sáblíková zwei WM-Titel über 3.000 Meter geholt. Über 5.000 Meter „nur“ einen, dafür hält sie auf dieser Strecke den Weltrekord. Und sie gewann in beiden Jahren den Gesamtweltcup über diese Distanzen. Denkt Pechstein an Sáblíková, dann fühlt sie sich an sich selbst erinnert: „Früher habe ich mir auch nicht so eine Rübe gemacht.“ Markus Eicher, der deutsche Bundestrainer der Frauen, kann sich an niemanden erinnern, der in diesem Alter so gut war: „Sie hat eine unglaublich hohe Beinfrequenz und sie macht den meisten Druck in der Kurve. Es gibt derzeit keine bessere Kurvenläuferin.“ Wie konnte Sáblíková trotz der widrigen Bedingungen in ihrem Heimatland so gut werden? „Wegen der widrigen Bedingungen“, antwortet Eicher. „Das hat sie hart und stark gemacht.“ So gesehen ist Martina Sáblíková ein Argument wider jegliche Sporthilfe.

Mit einem VW-Bus und ohne Geld, so Eicher, seien die Tschechen unter Trainer Petr Novák schon vor vielen Jahren regelmäßig nach Bayern zum Training gefahren. Nach wie vor funktioniert das tschechische Team wie ein bescheidener Familienbetrieb. Mit sechs Athleten sind sie nach Berlin gefahren. Und Novák ist, wie er sagt, Physiotherapeut, Doktor, Psychologe und Trainer in einem. Mit den Finanzen steht es mittlerweile dank der Sponsorenverträge von Sáblíková etwas besser. „Sie ist ein tolles Mädchen, sie verteilt das Geld einfach an das Team weiter“, schwärmt Novák über Tschechiens Sportlerin des Jahres 2007. Sáblíková ist ein Kind klassisch osteuropäischer Sporterziehung. Sie denkt kollektiv. Und entsprechend profan erklärt sie ihre Ausnahmezeiten: „Das kommt durch die gute Arbeit in unserer Trainingsgruppe“, sagt sie. In der Interviewzone nimmt sie die Journalistenfragen wie eine noch etwas unerfahrene, aber sympathisch zuvorkommende Restaurantbedienung entgegen.

Ihrer Sportart hat sie in Tschechien einen kleinen Boom beschert. Ein paar Fans und einige Journalisten waren am Wochenende wegen ihr nach Berlin gereist. Inzwischen gibt es gar konkrete Pläne, demnächst etwa 30 Kilometer vor der Stadtgrenze Prags eine Eisschnelllaufhalle zu bauen. Und höchstwahrscheinlich wird Sáblíková ihre Landsleute künftig mit noch größeren Erfolgen beglücken. Nicht nur ihr Trainer Novák sieht noch einigen Spielraum nach oben. Die Optimierungspläne sind auf die Olympischen Spiele 2010 in Vancouver ausgerichtet. Vielleicht beherrscht sie bis dahin sogar die Konkurrenz über die 1.500 Meter. In Berlin wurde Sáblíková über diese Strecke zu ihrer größten Unzufriedenheit zwar nur Fünfte. Aber Markus Eicher stellte fest, dass sie auch auf der kürzeren Distanz immer besser würde. Dass sie auch hier bald dominieren könnte, hält Eicher für ein nicht unwahrscheinliches Szenario. Denn: „Die kann alles.“ JOHANNES KOPP