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Archiv-Artikel

Schule in die Pubertät!

Das Schulsystem in Deutschland wird sich verändern. Aber wie? Bisher müssen sich die Schüler anpassen. Falsch: Um Kindern Horizonte zu eröffnen, muss Schule sich zum Teil ihres Lebens machen

VON NADJA KLINGER

Was Pisa für 15-Jährige, ist die Grundschulstudie Iglu für 10- bis11-Jährige. In Berlin wird heute Iglu im Vergleich der Bundesländer vorgestellt. Ein Ergebnis: Kinder haben sich der Schule anzupassen, die Schule kann die Probleme der Kinder ignorieren.

Beginnen wir mit einer einfachen Frage. Lässt ein Kind, bevor es in den Unterricht kommt, sein Leben draußen oder bringt es das Leben in die Schule mit?

Einfache Antwort: Das Kind hat das Leben bei sich. Immer. Sagen wir mal, es hängt ihm in den Haaren. Es färbt die Wangen und es beschleunigt seinen Puls. Wenn das Kind in den Unterricht gehetzt kommt, sagt man ihm, es solle sich setzen und verschnaufen. Dann gibt man ihm ein Sandsäckchen in die Hand. Es kann reden, wenn es will.

Dieselbe Antwort, nur konkreter: Um dem Kind Horizonte eröffnen zu können, muss Schule sich zum Teil seines Lebens machen. Die Probleme hängen nicht vor der Tür wie eine Jacke. Sie lüften niemals aus. Man kann sie nicht einfach hängen lassen, bis sie zum Hausmeister ins Fundbüro kommen, und dann vergessen. Im Grunde bleibt einem Lehrer gar nichts anderes übrig, als sich auf das Leben seiner Schüler zu beziehen.

Warum erkennt man Schule dann meistens am Gewicht? Warum füllt sie überproportionale Rucksäcke, warum schafft sie Rückenprobleme, Langeweile gleichermaßen wie Stress, psychischen Druck, schlechte Laune? Warum erkennt man Kinder, die langsam erwachsen werden, vor allem daran, dass sie mit der Schule endlich klarkommen? Daran, dass sie den Dreh raushaben, sich Schule weitestgehend vom Halse zu halten. Warum macht Schule sich selbst zur größten Nebensache der Welt? Weil sie es ist.

Nicht für mich.

Demnächst werden Lehrer aus der Klemme zwischen Schülern, Eltern und Schulverwaltung – aus dem Eingezwängtsein zwischen Leben und Lehrplan – herauskommen. Demnächst wird Politik gemacht. Das Schulsystem in Deutschland wird sich verändern. Wie es innerhalb der Veränderungen tatsächlich aussehen wird in den Schulen, kann keiner sagen. Möglicherweise werden Lehrer tatsächlich auf Ideen kommen. Möglicherweise können sie ihre Ideen umsetzen. Möglicherweise haben sie Zeit zuzuhören. Möglicherweise gelingt es zwei Generationen, miteinander Kontakt aufzunehmen.

Mit Sicherheit wäre die Schule, die sich mit den Gegebenheiten ihres Lebens auseinander setzt, für Kinder nicht mehr die größte Nebensache der Welt. Im Gegenteil. Diese Schule wäre launisch wie die Kinder selbst. Sie wäre verschwenderisch in ihren Ressourcen. Sie hätte ausreichend Kraft, um die ganze Welt zu verändern, und ausreichend lange Weile, um darüber nachzugrübeln, wie sie das tun will. Sie wäre unberechenbar, diese Schule, sie würde uns auf den Geist gehen, es würde Zoff geben zwischen uns und dieser Schule. Immer wieder. Und sie wäre stark. Unsere Kinder wären stark in dieser Schule, denn sie wäre ihre Institution. Der kluge Verwerter und Verarbeiter ihrer Interessen.

Das würde mich freuen.

Eine pubertierende Schule würde ein ganzes Land mit in die Pubertät ziehen. Dann ginge es wirklich heiß her. Wir hätten Reformen, die niemand erst verkünden müsste. So wie den Eltern Pubertierender auch niemand verkündet, dass es jetzt losgeht. Sie geben sich der Realität geschlagen. Sie sehen ihre Kinder und begreifen, dass Zeit vergeht. Und sie mitmüssen, ob sie wollen oder nicht.

Bei jeglichen Terminvereinbarungen mit Müttern, die in Lohn und Brot stehen, würde dann niemals mehr ein Chef eine Zeit nach 16 Uhr vorschlagen, ohne gesellschaftlich geächtet zu werden. Mitleidvolle Blicke ganzer Belegschaften gegenüber Müttern, die, anstatt bei der Betriebsfeier im Restaurant, mit ihren Kindern in der Küche gegessen haben, gäbe es nicht mehr. Mütterkolumnen aller Art würden eingestampft, Eltern-Kind-Cafés geschlossen werden. Es gäbe keine Homepage mehr, auf der sich Väter über ihre emotionalen Erfahrungen austauschen. Das ganze Land wäre im Rausch. Man würde mit Kindern zu Bewerbungsgesprächen gehen. Es stünde unter Strafe, sie vorm Haus stehen zu lassen, wenn man sich oben beim Makler um eine Wohnung bewirbt. Keine Frau würde mehr Mädchen genannt werden wollen. Es gäbe keinen Grund mehr, sich das gefallen zu lassen, es gäbe überhaupt keinen Anlass mehr, herumzulungern und übers Alter zu debattieren, über Mode oder Begrifflichkeiten, weil wir beständig im Gehen wären. Im Gehen mit der Zeit. Es wäre kein Rasen so wie jetzt, da wir hinter dem herrennen, was wir alles versäumt haben.