: Im Rausch der Geräusche
Musik als „Reibung und Widerhall“: Wie sich die in Bremen versammelten zeitgenössischen KomponistInnen von einer ausschließlich „Tonhöhen-fixierten“ Musik lossagen, ist ein echtes Hörerlebnis. Aber auch die Neue Musik ist von zahlreichen Konventionen belastet
VON HENNING BLEYL
Guillaume de Machaut könnte es gefallen haben: Nicht nur, weil die Wiedergabe seiner „Messe de Nostre Dame“ durch das „Ensemble Weser-Renaissance“ exzellent war. Sondern vor allem wegen der Verzahnung seines 1364 entstandenen Werks mit den „Machaut-Architekturen III und V“, die José Maria Sánchez-Verdú 2003 und 2005 komponierte. Die musikalische Brücke über 640 Jahre macht Sinn, schließlich ist Machauts Kunst kaum weniger innovativ als die Werke heutiger Komponisten. Er gilt als wichtigster Vertreter der „Ars Nova“, einer Art künstlerischer Avantgarde des Mittelalters, die in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Zäsur zur neuzeitlichen Musik bewirkte.
Was in Bezug auf Machaut Spekulation ist, konnten die BesucherInnen des Festivals der Bremer „projektgruppe neue musik“ (PGNM) jetzt live nachvollziehen: Platziert auf zwei Ebenen, wechseln die „Weser-Renaissanceler“ und ein eigens zusammen gestelltes Projektensemble den musikalischen Staffelstab, und das Auditorium in St. Ansgarii konstatiert erstaunt, dass die alte Messe eine Klangreise in ähnlich fremde Welten wie Sánchez-Verdús zeitgenössisches Werk sein kann. Machauts isorhythmische Figuren, die durch komplexe Stimmkombinationen entstehenden, seriell anmutenden Rhythmen, der Reiz der fragmentarisierten, einander ergänzenden Oberstimmen: Das zu hören, wirkt keinesfalls wie ein Schritt ins Musikmuseum.
Denn so grundverschieden die jeweiligen klanglichen Ausgangsbasen auch sind, die Verbindung von Avantgarde und Avantgarde offenbart bemerkenswerte Parallelen: Auch Sánchez-Verdú setzt auf einen dichten Klangstrom, und was Machaut in den harmonischen Rückungen innerhalb des dichten Stimmgewebes sucht, findet Sánchez-Verdú in der Binnenstruktur spektral aufbrechender instrumentaler Klangfarben.
Die Verzahnung von sehr alt und sehr neu ist auch bei auffällig vielen anderen, jetzt in Bremen aufgeführten Werken zu finden. Der Norweger Ole-Henrik Moe nennt sein ausschließlich geräuschhaftes Solo-Stück für Violine „Ciaccona“. Die barocke Gattungsbezeichnung verweist auf strukturelle Gemeinsamkeiten: Auch bei Moe entfalten sich die Oberstimmen über einer permanenten Bass-Grundierung, einer Art Bordunklang.
Wie das technisch geht? Man nehme drei nebeneinander stehende Notenpulte und mindestens anderthalb Meter breite Partiturblätter, die der Komponist im Laufe des Vortrags Schicht für Schicht abnimmt. Alles andere bleibt der Geigerin überlassen: ein 43 Minuten währender Kampf um die mikrokosmische Fülle, die scheinbaren „Einzeltönen“ innewohnt. Ausgehend von Flageoletts, also Obertönen, lässt Kari Rønnekleiv mit dauervibrierenden Fingern die Klangspektren in weitere Einzeltonreihen aufbrechen. Das führt zu einem Tanz der Obertöne, auch das ein Verweis auf die Ciaccona als barocke Tanzgattung.
Das offizielle Thema dieser „konzertanten Tagung“ ist die musikalische Qualität des Geräusches, eingefangen im Festivaltitel „Reibung und Widerhall“. Ein gutes Dutzend KomponistInnen hat sich in Bremen zusammen gefunden, wobei das große Binnen-„I“ ein bisschen euphemistisch ist – mit der aus Kasachstan stammenden Jamilia Jazylbekova ist genau eine Vertreterin des Fachs dabei, entsprechend „mischen“ sich auch die Diskussionspodien.
Was dort ebenso zu kurz kommt, sind Nachwuchsfragen – also die Chance, die „Neue Musik“ Kindern und Jugendlichen bietet: die Welt nicht fertig vorzufinden, sondern eigene Klänge in sie zu setzen. Ein Komponist wie der Bremer Christoph Ogiermann, der „Neue Musik für neue Unterschichten“ fordert und zum Einsatz bringen will, ist bei solchen Veranstaltungen noch eine Einzelstimme.
Bei „Unterschichten“ denkt Ogiermann an Menschen ohne bildungsbürgerliche Instrumentalkenntnisse, auch an SchülerInnen – für sie alle könnte „Neue Musik“ eine Chance sein: „Man muss nicht erst fünf Jahre studieren, wie man ,richtig’ Geige spielt, um sie anschließend zu reiben.“
In der Tat: Wenn jeder Klang, unabhängig von seiner Erzeugung, als legitimes Material einer musikalischen Äußerung verstanden wird, ist Komponieren einigermaßen voraussetzungsfrei. Eine entsprechende Praxis spielt bei der akademisch geprägten „PGNM“ freilich noch keine Rolle. Schließlich benutzen auch die KomponistInnen selbst auffallend viele Traditions-Instrumente. Warum bloß, wenn deren beim Bau intendierter Klang doch auf Teufel komm raus gemieden wird?
Bei Michael Maierhofers „Zonen 2“ muss sich der Klarinettist mit dem abgeschraubten Fuß seines Instrumentes abmühen, obwohl ein beliebiger anderer Hohlkörper genauso viel – oder eben wenig – zum Imitieren eines Motorgebläses taugt. Maierhofers schlichte Erklärung: „Ich mag die alten Instrumente.“ Immerhin experimentiert Maierhof, der das „Reiben auf Untergründen“ zu seinem Schwerpunkt als Klangforscher erklärt, intensiv mit Plexiglasplatten: Über einander geschoben, produzieren sie beeindruckende Sounds, deren Spektrum von zart säuselndem Raspeln bis zu harscher Rhythmik reicht.
Die ehrenamtlich arbeitenden PGNM-lerInnen haben bereits ihr 15. Festival auf die Beine gestellt: Ein mehr als beachtliches Engagement angesichts zusammengestrichener Fördermittel, die 2002 zur Streckung des Festivalrhythmuses auf eine Biennal-Taktung führte. Auf Konzerte der Dimension Machaut/Sánchez-Verdú muss Bremen jetzt also wieder zwei Jahre warten.