: Ungeahnter Aufschwung am Bosporus
Während es der Weltwirtschaft schlecht ging, erholte sich die Türkei: Die Wachstumsrate ist die zweithöchste der Welt
ISTANBUL taz ■ Vor wenigen Tagen erlebten die Einwohner Istanbuls eine symbolträchtige Überraschung. Mit großen Plakaten kündigten die städtischen Fährgesellschaften an, dass die Preise gesenkt werden. Am Montag zogen dann auch die privaten Gesellschaften nach. Statt einer Million Lira kostet die Fahrt über den Bosporus nur noch 750.000 Lira. Die Differenz ist wenig bemerkenswert, es geht um 10 Cent. Umso wichtiger ist die Botschaft: Für eine ganze Generation von Türken ist es das erste Mal, dass die Preise fallen.
Seit Mitte der 70er-Jahre lag die Inflationsrate in der Türkei zwischen 60 und 100 Prozent jährlich. Regelmäßige Preiserhöhungen waren so sicher wie der tägliche Gebetsruf. Schon lange waren den türkischen Konsumenten die Beschwörungen der Politiker, man werde den Kampf gegen die Inflation nun mit aller Kraft angehen, kaum noch ein Schulterzucken wert. Es passierte ja doch nichts. Doch jetzt ist es passiert. 2003 lag die Inflationsrate erstmals seit 1976 bei knapp unter 20 Prozent. Für dieses Jahr rechnen Bankanalysten damit, dass die Inflationsrate sogar in den einstelligen Bereich rutschen könnte. Ein enormer Erfolg der Regierung Erdogan, den ihr nach der Wahl Ende 2002 niemand zugetraut hätte.
Nicht wenige hatten gedacht, dass Recep Tayyip Erdogan nach dem Wahlsieg seiner AKP, den er überwiegend den Armen verdankte, die Verschuldung weiter hochtreiben würde, um den Erwartungen seiner Klientel nach ein bisschen mehr Geld in der Tasche genügen zu können. Doch die marktliberale AKP setzte das bereits mit dem Weltwährungsfonds (IWF) und der Weltbank abgesprochene Sanierungsprogramm fort und mutete ihrer Gefolgschaft strikte Ausgabendisziplin und einen massiven Abbau staatlicher Unterstützung zu. Für viele Unternehmer, aber auch Investoren aus dem Ausland war das offenbar das Signal, auf das sie gewartet hatten. Trotz Irakkrieg schaffte die türkische Wirtschaft nach den verheerenden Krisenjahren 2001 und 2002 ein Wachstum von über sieben Prozent – die zweihöchste Marge nach China.
Der Motor des türkischen Wachstums ist neben der traditionell starken Textilindustrie vor allem die Elektro- und Autoindustrie. Die Türkei ist mittlerweile Standort für Multis, die von hier aus den gesamten Weltmarkt beliefern. Renault und Fiat fertigen hier ganze Baureihen für den internationalen Markt. Daimler-Benz und MAN bauen ihre Busse fast nur noch in der Türkei.
Eine besondere Erfolgsgeschichte ist die Unterhaltungselektronik. Türkische Firmen und Niederlassungen diverser Multis sind führend in der Produktion moderner Farbfernseher. Marc Landau, Vorsitzender der deutsch-türkischen Industrie- und Handelskammer in Istanbul, geht davon aus, dass dieser Trend sich verstärken wird. In einer Studie über Produktionsstandorte in Osteuropa habe die Türkei überraschend gut abgeschnitten. „Vor allem bei Qualifikation und Motivation der Mitarbeiter“, so Landau, „ist die Türkei führend.“ Deutsche Investoren hätten allein letztes Jahr 60 neue Projekte gestartet.
Diese Perspektive lässt auch die Bundesregierung nicht kalt. Wenn Kanzler Schröder in vier Wochen die Türkei besucht, wird er unter anderem ein Kraftwerk der Steag in Iskenderun, am östlichen Rand des Mittelmeers, einweihen: Investitionsvolumen rund 1,5 Milliarden Euro.
Nachdem die Regierung Erdogan ihre Anhängerschaft über ein Jahr vertröstet hat, ein Jahr, in dem an der Börse längst wieder gut verdient wurde, realisierte sie jetzt eines ihrer wichtigsten Versprechen: Sie erhöhte den garantierten Mindestlohn, mit dem laut Gewerkschaft mehrere Millionen Arbeitnehmer auskommen müssen, seit Januar um 34 Prozent, die Renten um 26 Prozent. Da die Inflationsrate jetzt unter 20 Prozent liegt, haben die Leute seit Jahren erstmals wieder mehr in der Tasche. Das führte prompt zu einem der ersten Konflikte mit dem IWF. Der Fonds sieht die Haushaltsdisziplin gefährdet und verlangt einen Ausgleich durch Mittelkürzung oder Steuererhöhung. Zähneknirschend musste die Regierung eine Preiserhöhung für Gas und Elektrizität verkünden. Wenn Ende dieses Jahres der mit dem IWF 2001 abgeschlossene Stützungskredit über 16 Milliarden Dollar ausgezahlt ist, will die Türkei ohne weitere Hilfe des IWF auskommen. Stattdessen soll mit einer Währungsreform die neue Stabilität auch nach außen sichtbar gemacht werden: Auf neuen Scheinen ab 2005 werden sechs Nullen gestrichen und aus 1 Million Lira wird wieder eine Lira. Ein Euro dürfte dann rund 1,5 Lira wert sein.
JÜRGEN GOTTSCHLICH