: Am Rande der Selbstauflösung
Bei Esther Gerritsen, Nachwuchsdramatikerin aus den Niederlanden, tendieren die Personen dazu, aus der eigenen Biografiezu verschwinden. Mit postfeministischer Bosheit erzählt sie von Hausfrauen und ihrer Lust an gewalttätigen Fantasien
von ESTHER SLEVOGT
Die Dramatikerin wandert. „Irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern“, ist aus den Sophiensaelen zu erfahren, wo am Donnerstagabend Esther Gerritsens Monolog „Hausfrau“ als deutsche Erstaufführung Premiere hatte. Doch das Porträt muss zunächst ohne die Porträtierte auskommen: Bei näherer Betrachtung ist das eine ausgesprochen angemessene Form für den ersten Auftritt der Amsterdamer Dramatikerin in Deutschland. Schließlich muss der sehr eigene Realismus ihrer Stücke in den meisten Fällen auch ohne die Wirklichkeit auskommen. Denn der Verlust einer Wahrnehmung, in der die Wirklichkeit noch Bestand hätte, durchzieht ihre Szenarien.
Doch fangen wir von vorne an: Den Namen Esther Gerritsen wird man sich wahrscheinlich merken müssen. 1972 wurde sie im holländischen Doesburg geboren und ist inzwischen in den Niederlanden eine hoch gehandelte Nachwuchsautorin – spätestens seit sie vor zwei Jahren das angesehene Charlotte-Köhler-Stipendium gewann. An der Kunsthochschule Utrecht hat sie Theater und szenisches Schreiben studiert und inzwischen sechs Stücke, Kurzgeschichten und einen Roman geschrieben.
In ihrem letzten Drama „Ein freundliches Stück über nette Menschen“ erleben ein paar Restpersönlichkeiten, dass sie sich nichts mehr zu sagen haben. „Dass ich glücklich bin … dafür kann ich doch nichts“, sagt zum Beispiel Michael. „Das kommt, weil ich etwas erlebt habe, ja, früher, das war echt …“ Das ICH dieser Sprecher ist nicht einmal mehr ein anderer, sondern höchstens noch ein Konzept zur Selbstvermarktung. Dabei könnte die Situation auf den ersten Blick kaum normaler sein: zwei Leute besuchen einen Dritten. Doch dann dauert es schon fast das halbe Stück, bis sie überhaupt die Mäntel ausgezogen haben. Sofia kann alles, weiß alles, ist alles: Professorin für Molekularbiologie, Proust-Spezialistin, Weltrekordhalterin im Hürdenlauf und als Sängerin „Stimme des 21. Jahrhunderts“. Gastgeber Michael ist immer glücklich. Nur Gabriel, der Dritte, sieht wie ein echter ‚Loser‘ aus. „Gabriel ist der Realistischste von uns dreien“, sagt Sofia über ihn. Was daran liegen kann, dass Gabriel möglicherweise ein Engel ist. Jedenfalls sieht Gabriel in Michaels Küche plötzlich einen Bischof. Wie er dort hinkommt, bleibt allerdings offen. Vielleicht ist ja alles auch gar nicht wahr.
Relativ überschaubar bleibt dagegen zunächst das One-Woman-Szenario von „Hausfrau“, mit dem die deutsch-holländische Theatergruppe Schöpfwerk jetzt Esther Gerritsen in Deutschland vorstellt.
„Es ist elf Uhr“, sagt da die Hausfrau. „Die Frau sieht die letzte ungeschälte Kartoffel an. Bis halb sechs ist diese Kartoffel die Einzige, die etwas von ihr erwartet.“ Um halb sechs kommt dann der Ehemann nach Hause, und bis dahin gilt es, das Nichts zu inszenieren, in das sie sich vor dem Leben zurückgezogen hat. Früher war es anders. Jetzt ist es so. Dafür haben jetzt die Haushaltsgeräte Persönlichkeitsstatus. Braun, der Mixer, oder Gorenje, die Abzugshaube, „die Einzige, die einen Frauennamen bekommen hat“. Esther Gerritsens Hausfrau genießt ihren Zustand am Rande der Selbstauflösung, an deren Höhepunkt sie sich nach Clint Eastwood sehnt: „Mein Clint Eastwood/ In seinen frühen Filmen/ In denen er noch ungestraft Frauen vergewaltigen darf./ Die danach zurückkommen und mehr wollen, weil es so gut war.“ In neun Szenen beleuchtet die Frau sich selbst, entwirft das Hausfrauendasein als Alternative zu Leistungsdruck und verordnetem Lebenssinn, spielt mit der Sehnsucht nach Auflösung, dem Verschwinden in der Biografie eines anderen. Da steckt viel postfeministische Bosheit im Blick, aber auch die eher nüchterne Feststellung, dass sich im Verhältnis der Geschlechter in den letzten dreißig Jahren nicht allzu viel verändert hat.
In Köln und Münster sind demnächst Aufführungen von Gerritsen-Stücken geplant. Besonders an der Schaubühne interessiert man sich für die Autorin, deren kühle, reduzierte Diktion manchmal an die Dramatikerin Caryl Churchill erinnert. Vorläufig durchmisst die unrealistische Realistin Esther Gerritsen Deutschland noch ganz physisch zu Fuß.
Mangels echter O-Töne kommt daher noch mal eine Theater-Figur zu Wort: die Mutter aus der mörderischen Kleinfamilien-Komödie „Gras“, die 1999 von der Amsterdamer Gruppe „Het Syndicaat“ uraufgeführt wurde. Die sagt nämlich, bevor sie schließlich auf dem Campingplatz vom eigenen Sohn begraben wird: „Theater muss immer etwas realistischer sein als die Realität. So findet alles seinen Meister.“
„Hausfrau“ in den Sophiensaelen, 21. + 22. März, 20 Uhr, weitere Aufführungen im April