ein amerikaner in berlin : Die Bedeutung der Stammkneipe
Trinken mit dem Wir-Gefühl
Es ist ein Segen, eine Stammkneipe zu haben. Da trifft man sich mit Gleichgesinnten, befreit sich von den Lasten des Alltags und trinkt Bier, bis das Leben nicht mehr wehtut. Zumindest war das früher mal so. Während meiner früheren Aufenthalte in Deutschland habe ich mir die herrliche deutsche Stammkneipensitte angewöhnt und traf mich mit meinen Studienkollegen nach der Vorlesung auf ein Bier, was auch erklärt, dass ich so herzlich wenig von meinem Studium der späten deutschen Lyrik mitbekommen habe.
Als ich nun in Kreuzberg ankam, hatte die Suche nach meiner zukünftigen Stammkneipe höchste Priorität. Da ich hier niemanden kannte, musste ich auf eigene Faust die passende Theke finden. Vielfalt – ich wohne in der Oranienstraße – ist auf jeden Fall vorhanden. Mit der auf den ersten Blick verheißungsvollen Punkkneipe um die Ecke fing ich an. Hier ist man empört und verärgert: wegen der Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, wegen der Unterdrückung der Frau oder einfach nur so. Die allgemeine Widerwilligkeit gefiel mir, auch die Mucke stimmte. Gesucht, gefunden, dachte ich und ging mehrere Abende hin.
Keiner sprach mit mir oder reagierte auf meine jämmerlichen Versuche, mit jemand ins Gespräch zu kommen. Meistens blickten mich die Leute an, als hätte ich sie gerade gefragt, ob sie Jesus schon als ihre einzige seelische Rettung akzeptiert hätten. Und so dachte ich eines Abends in der einsamen, aber preiswerten Gesellschaft eines Haacke-Becks über die Gründe dafür nach, bis ich zu dem Schluss kam, dass ich einfach zu ordentlich aussehe: Mein Hemd ist zwar immer zerknittert und meine Hose hat einen schwarzen Fleck von den Kohlen, die ich jeden Tag in meine Altbauwohnung tragen muss. Doch weder sind meine Haare todschwarz noch marxistisch rot, und damit bin ich in dieser Kneipe erledigt. Denn hier gilt: Wenn du nicht bereit bist, wie der Widerstand auszusehen, bleibst du draußen.
Gut, dachte ich, dann wechsle ich eben die kulturpolitische Mannschaft. In Kreuzberg – wie in ganz Deutschland – gibt es an fast jeder Ecke eine Kneipe, die hauptsächlich von heruntergekommenen Langzeitarbeitslosen und Rentnern bevölkert wird und Namen wie „Zur Bierpause“ trägt. Das wäre es, dachte ich: einfache Leute, die das Gute im Menschen und nicht seine Haarfarbe zu schätzen wissen. Meine Leute eben.
Als ich die „Bierquelle 4“ betrat, war das wie im Western. Der Fremde kommt rein, die Gespräche ersterben, die Kartenspieler halten inne, gucken den Fremden feindselig an. Ein älterer Herr stoppt seinen Kümmerling knapp vor der Kehle, starrt mich an. Okay, hier gehörte ich wohl auch nicht hin.
Gott sei Dank, beim dritten Anlauf klappte es. Ist zwar keine richtige Kneipe, sondern ein Café, aber zu mir passt es perfekt. Das Publikum in dem Laden besteht nämlich zum größten Teil aus arbeitslosen Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen, von denen es in Kreuzberg recht viele gibt. Hier darf ich drei Stunden sitzen, rauchen, plaudern, lesen oder nur auf die Wand starren, ohne dass ich ein einziges Mal auffalle. Die Leute leiden so sehr unter ihren existenziellen Krisen, dass sie keinen Mut haben, abstoßend zu sein. Um die Klientel zu schonen, die der Effizienz eine immanente Feindseligkeit entgegenbringen, kommt die Bedienung nur einmal pro Stunde vorbei. Den Rest der Zeit steht der Kellner an der Theke, trinkt starken Kaffee, raucht Kette und ist nur schwer von den Gästen zu unterscheiden ist. Aber das wichtigste am Stammkneipehaben ist ja nicht die Bedienung. Sondern das Wir-Gefühl. ARNO HOLSCHUH
Arno Holschuh (27) arbeitete als Reporter in Kalifornien und lebt derzeit für ein Jahr als Fulbright-Stipendiat in Berlin