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Archiv-Artikel

Hyperaktivität der Boheme

Das Zentrum ist vage, und an den Rändern franst alles aus: Frank Castorf inszeniert Pitigrillis Roman „Kokain“ an der Berliner Volksbühne – alles in allem ein ungemein rauschmimetischer Abend

Zu konstatieren ist bei Frank Castorf ein gewisser Hang zum Gesamtkunstwerk

VON DETLEF KUHLBRODT

„Das Schwindelerregende“ stand in großen Lettern über der Volksbühne am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz, und es regnete in Strömen, als am Samstagabend „Kokain“ in der Inszenierung von Frank Castorf Premiere hatte. Die letzte Inszenierung des Volksbühnenchefs lag schon eine Weile zurück, die Spannung war groß.

Besonders neugierig war man auf das Bühnenbild des neoaktionistischen Künstlerstars Jonathan Meese. Seinen Einstand an der Volksbühne hatte er am 22. Januar gefeiert, mit einer Präsentation von John Boormans ziemlich durchgedrehter, trashig-drogiger Science-Fiction „Zardoz“ (1974) mit Sean Connery in der Hauptrolle. Zu Beginn dieses äußerst seltsamen Werks wird ein grausamer Gott, der als riesenhafter Kopf durch die Lüfte schwebt, Gewehre ausspuckt und seinen Anhängern zu morden befiehlt, vom Helden getötet. Außerdem hatte es Ausschnitte eines Hörspiels von Meese gegeben, in dem es darum gegangen war, die Herrschaft der alten Opferpriester zu brechen, denen man es andererseits auch nicht verdenken könne, dass sie die Jungen opfern wollen. Denn: „Unser Fleisch ist zart, unser Fell weich, ein Lammfell.“

Des Weiteren sah man Aufnahmen von einer Pressekonferenz. Mit Trainingsanzug und Sonnenbrille hatte der kräftige Künstler wie ein Star ausgesehen und gesagt, er habe sich in letzter Zeit so gelangweilt, dass er am liebsten nur noch habe kotzen mögen. Außerdem sei er schon völlig verfettet gewesen, aber jetzt wieder „kampffähig“. Sein Leben schien ihm ein Wald, nun müsse er wieder auf die nächste „Lichtung“. Außerdem sei die Kunst frei, wohingegen wir total unfrei seien. Während die Realität und ihre Gesetze zum Kotzen seien, habe die Kunst eigene Gesetze, und „das ist das Schöne“.

Nun gut. Der 1922 von dem italienischen Autor Dino Segri unter dem Pseudonym Pitigrilli veröffentlichte Roman „Kokain“ gilt als Schund und wurde bis Anfang der 80er-Jahre immer wieder verboten. In grellen Farben wird von einem italienischen Bohemien erzählt, der in Paris eine Sensationsreportage über Kokainisten schreibt, als Journalist auch mit ausgedachten Texten Karriere macht, kokainsüchtig wird und ein freizügiges Leben führt. Später ersetzt er die Droge durch die Geliebte – eine Prostituierte und mittelmäßige Schauspielerin –, aber sie verlässt ihn, nachdem er mit ihr um die halbe Welt gefahren ist. Actionreich geht es ums wilde Bohemeleben, Drogenpartys, Populärnietzscheanismen, um Sucht, Sex, Ausschweifung, Nihilismus, und am Ende steht der Tod.

Auf der Bühne steht ein violetter Monolith in Form eines Eisernen Kreuzes. Auf dem halb versunkenen Gebilde, das eine schiefe Ebene bildet, befinden sich Schornsteine und zwei Vulkane. In den Ecken des Kreuzes verschiedene Zimmer. Eine Bar, ein Raum mit Druckmaschine, ein Hotelzimmer, ein mit Zellophan gehülltes Zimmer und ein Zimmer, in dessen Regalen Kunstwerke von Meese stehen. In jedem Raum stehen Fernseher. In einem läuft die 70er-Jahre Sci-Fi-Serie „Time Tunnel“. In einem anderen sieht man auf einer Leinwand Szenen, die in einem anderen Bühnenbereich gerade aufgenommen werden oder auch anderes. Und ganz groß, hinter dem Monolithen, läuft die ganze Zeit, mal mit, mal ohne Ton, der Film „Zardoz“.

Mit einem gewissen Hang zum Gesamtkunstwerk lässt Castorf das Stück auf vielen verschiedenen Erzählebenen meist gleichzeitig spielen. Er verwendet die einzelnen Ebenen wie Themen in der Musik. Themen tauchen auf, werden abgeblendet, kehren wieder, mal schneller, mal langsamer, ergänzen sich, kommentieren, widersprechen einander. Sehr verwirrend, zumal es dazu auch noch häufig wechselnde Musik – von Klassik, französischen Chansons, Nenas „Irgendwie, irgendwann, irgendwo“ in einer James-Last-Fassung bis zu laut rockigen Daniel-Johnston-Coverversionen („Rocket Ship“) gibt. Auch wenn man den Roman kennt, ist es schwer, dem Stück aktiv zu folgen, zumal manches auch so leise oder schnell gespielt wird, dass man nur Fetzen versteht. Manchmal erinnert „Kokain“ an das berühmte Beatles-Stück „Revolution No. 9“. Das Zentrum ist vage, und an den Rändern franst alles aus. Man überlässt sich als Zuschauer dem Geschehen wie in einem Rausch. Die Schauspieler agieren – dem Thema vielleicht zu entsprechend – meist hyperaktiv, übernervös, sprunghaft, hysterisch und albern. Gegen Ende tauchen riesenhafte, von dem „Zardoz“-Film inspirierte Figuren mit Riesenpenissen auf. Durch die Penisse sind Hölzer getrieben, sodass sie kreuzförmig aussehen.

Als überforderter Zuschauer denkt man einerseits, dass Frank Castorf zu rauschmimetisch inszeniert hat, Schwindel erregend halt. Andererseits sind einzelne Szenen auch wieder sehr eindringlich und schön. Und sowieso war’s gefühlsmäßig schon sehr prima.