: Schweigekonsens in den 50ern
betr.: „Das Wunder von Essen“, taz vom 27. 1. 04
Das Antisemitismus-Tabu, schreibt Stefan Reinecke, hätten „die Alliierten“ in den 50er-Jahren durchgesetzt. Nein, sicherlich nicht – die Alliierten hatten in den 50ern Einfluss unter anderem auf die Außenpolitik, kaum aber auf die Ächtung des Antisemitismus. „Den Alliierten“ war es bekanntlich schon nicht gelungen, die Entnazifizierungsverfahren mit durchgreifendem Erfolg abzuschließen – wie sollten sie beim Antisemitismus mehr erreichen, und das nicht direkt nach 1945, sondern, wie Reinecke angibt, in den 50er-Jahren?
Zu den tatsächlichen Vorgängen nur einige Stichworte: Die 50er-Jahre waren auch bei diesem Thema vom Schweigekonsens geprägt. Außerhalb dieses Konsenses stand nur, wer seine eigene Beteiligung am Antisemitismus der NS-Zeit offensiv marginalisierte. Deshalb entzündete sich die vergessene „erste Studentenbewegung“ (Kraushaar) der Bundesrepublik an Nachkriegsfilmen von Veit Harlan, der für Goebbels das berüchtigte antisemitische Melodrama „Jud Süß“ gedreht hatte. Wer wie der NS-Rassegesetzekommentator Globke über seine früheren (Un-)Taten schwieg, konnte führende Ämter übernehmen, nur wer wie Harlan durch die Bundesrepublik reiste und für sich den Schlussstrich einforderte, stand außerhalb.
Die Alliierten hatten damit kaum etwas zu tun, und tabuisiert war weniger der Antisemitismus als das Reden über die jüngste antisemitische Vergangenheit. „Bleiernes Schweigen“ nennt dies Reinecke zu Recht. Und auch dieses endete ganz ohne Hilfe der Alliierten, spätestens nämlich mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess der frühen 1960er-Jahre, als jedenfalls die unteren NS-Chargen in das Blickfeld der Öffentlichkeit rückten. THOMAS HENNE, Frankfurt am Main