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Archiv-Artikel

Schuften fürs Existenzminimum

Ob als Wachmann, Briefzusteller oder Müllsortiererin, viele Berliner verdingen sich in Billigjobs. Sie arbeiten Schicht für knapp 6 Euro brutto in der Stunde. Davon profitieren Unternehmen wie der Müllkonzern Alba, aber auch das Polizeipräsidium

VON PETER KESSEN

Brigitte Jurisch erzählt nicht von ihrem Job, sie erzählt von „Knüppelarbeit“ – für wenig Geld: „Ich bekam einen Stundenlohn von 5,63 Euro. Und wenn man krank war, bekam man sogar noch Abzug. Man musste da wirklich Akkord arbeiten. Man hatte Rückenschmerzen, den ganzen Tag stehen, dass ist klar.“ Die 42-Jährige war Müllsortiererin bei der Entsorgung & Rohrservice Velten GmbH, vier Jahren arbeitete sie dort im Dreischichtbetrieb. Am Monatsende standen 800 Euro brutto auf dem Lohnstreifen.

In der gleichen Fabrik verdienten Beschäftigte des Müllkonzerns Alba für die gleiche Arbeit ein Drittel mehr Gehalt. Jurisch bekam weniger, weil ihre Firma als selbstständige GmbH des Alba-Konzerns unter Tarif bezahlt. Bei einer Arbeitslosenquote von über 20 Prozent in Brandenburg sah die Müllsortiererin keine Alternative: „Ich brauchte das Geld, wir haben uns hier ein Haus angeschafft. Das war am Existenzminimum.“ Ihr Lebensgefährte arbeitete zu ähnlichen Bedingungen bei der Firma. Mit der Schichtarbeit finanzierten sie ihr Reihenhaus in Woltersdorf, Brandenburg, der siebenjährige Sohn Ricardo soll im Grünen aufwachsen.

Im Januar 2004 erhielten Brigitte Jurisch und ihr Lebenspartner die fristlose Kündigung. Beide hatten sich, unterstützt von der Gewerkschaft Ver.di, über Leistungsdruck und mangelnde Hygiene beklagt und eine Versetzung in die Weddinger Filiale abgelehnt. Ver.di hält das Vorgehen der Firma für illegal. Diese bezeichnet die Vorwürfe gegenüber der taz als „unzutreffend“, ein Prozess wird folgen.

Niedriglöhner brillieren in den Medien mit einem bizarren Image: als Helden der Arbeit, die nur zwischen 5 und 8 Euro brutto verdienen – und trotzdem auf Schwarzarbeit und Sozialhilfe verzichten. Meist als Putzfrauen, Wachmänner oder Kassiererinen. Ursachen des Booms sind geringe Stundenlöhne, aber auch unbezahlte Überstunden und unfreiwillige Teilzeitarbeit. Friseure, Gebäudereiniger, das Bewachungsgewerbe, der Handel und die Gastronomie sind besonders stark betroffen. Auch in Anwaltskanzleien und in Steuerbüros werden Bürokräfte mit Niedriglöhnen abgespeist.

Dumpinggehälter finden sich auch in der Lebensmittelindustrie – wie in der Fischfabrik Norfisk in Berlin-Neukölln. Die Firma produziert für Discounter – ohne Tarifvertrag und vom Betriebsrat geforderte Schutzkleidung. Am Fließband schichten rund vierzig Frauen Lachsscheiben. Der Fisch ist 13 Grad kalt, die Halle nass, viele Frauen klagen über Schmerzen im Unterleib und in den Händen. Die meisten Arbeiterinnen haben seit sechs Jahren keine Lohnerhöhung erhalten. Wie die Beschäftigte, die sich nach der Arbeit zu einem Interview bereit findet. Aus Angst um ihren Arbeitsplatz möchte sie ihren Namen nicht nennen. „Ich bin Produktionshelferin am Fließband, das ist ziemlich hektisch. Es ist sozusagen Akkordarbeit“. Die Arbeiterin klagt über dauernde Schmerzen in den Händen, die Frauen müssten auch schwere Kisten tragen, plötzlich angeordnete Sonderschichten gehörten zum Alltag. Ein vom Betriebsrat geforderter Kältezuschlag wurde abgelehnt: „Die Firma war der Meinung, wir können dementsprechende Arbeitskleidung tragen und auch noch was drunterziehen“.

Auf taz-Anfrage mochte sich das Unternehmen Norfisk zu den Vorwürfen nicht äußern. Der Stundenlohn der Produktionshelferin liegt knapp über 7 Euro: „Das ist unterbezahlt. Ich geh schon lieber gern arbeiten, als ich zu Hause bin. Aber mit dem Mindestlohn, den wir da verdienen, ist nicht auszukommen.“ Es bleiben 1.100 Euro brutto bei Steuerklasse 1, allein die Miete frisst 450 Euro.

Eine exquisite Variante des Lohndumpings praktiziert das Kulturkaufhaus Dussmann in der Berliner Friedrichstraße. Die Gewerkschaft Ver.di verfügt über außergewöhnliche Tarifverträge: Die Buchhändler arbeiten für 1.500 Euro brutto – allerdings zumeist als Prokuristen. Diese leitenden Angestellten dürfen Überstunden leisten und so bis 22 Uhr mit Umsatzbeteiligung verkaufen. Das Kulturkaufhaus erklärt auf Anfrage, damit ließe sich der Ladenschluss kostengünstig umgehen. So arbeitet rund ein Drittel der Beschäftigten als Führungskraft, mitunter für 8 Euro brutto pro Stunde.

Ähnliche Bedingungen herrschen bei der PIN AG, dem ersten privaten Postdienst mit ca. 600 Mitarbeitern. Ein Beschäftigter will die Arbeit aus Angst vor einem Gerichtsprozess nur anonym beschreiben: „Der Stundenlohn für eine normale Stunde betrug ungefähr 11,90 Euro, zuletzt bei einer Sechstagewoche. Ich hab von Viertel nach sieben bis ca. achtzehn Uhr gearbeitet. Das ist nichts Besonderes dort. Pro Monat waren das meist um die 40 unbezahlte Überstunden.“

Wer keine Überstunden mache, schaffe die Arbeit nicht und bekomme den Vertrag nicht verlängert, erzählt der Zusteller, der bei der Post zur Fachkraft für Brief und Frachtwesen ausgebildet wurde: „Viele lassen es trotzdem mit sich machen, die haben Familie.“ Die privaten Briefträger müssten dreimal so viel Arbeiten wie ihre blau-gelben Kollegen leisten – die PIN AG ist so rund ein Fünftel billiger als die Post. Kunden in Berlin sind das Polizeipräsidium, die Finanzämter und die meisten Bezirksverwaltungen. So arbeitete der Briefzusteller für die Sparhaushalte staatlicher Behörden – für einen realen Stundenlohn von rund 5 Euro. Rund 150 unbezahlte Überstunden sind per Firmenbescheinigungen nachweisbar, dennoch bezeichnet die PIN AG die Vorwürfe als unzutreffend.

Die Arbeitgeberseite sieht Niedriglöhne anders. Viktor Steiner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung verweist auf geschätzte 500.000 freie Jobs im Niedriglohnbereich. Diese Stellen blieben wegen eines „Arbeitsanreizproblems“ unbesetzt: „Arbeitnehmer werden nur dann bereit sein, einen nur niedrig bezahlten Job anzunehmen, wenn sie dadurch ein höheres Einkommen erzielen können als durch Sozialtransfers.“ Volkswirtschaftler Steiner fordert weitere Lohnsenkungen, trotz des prekären Lebensstandards der Billigarbeiter: „Es ist nicht die Aufgabe der Unternehmen, dafür zu sorgen, dass die Einkommen auch noch die Bedürfnisse der Kinder abdecken. Da müsste der Staat finanziell helfen.“

Die sozialen Konsequenzen des Dumping-Booms hat gerade Tobias Müller* erfahren. Der Berliner Mittvierziger hat fast ein Dutzend Jahre zufrieden für den Müllkonzern Alba gearbeitet. Am Schluss für rund 1.300 Euro. Dann sollte der Vater einer mehrköpfigen Familie in einer ausgegründeten GmbH arbeiten. Dieses Outsourcing gehört zum kostengünstigen Alba-Geschäftsprinzip. So schreibt der Konzern schwarze Zahlen im dreistelligen Millionenbereich.

Müller wurde vor harsche Alternativen gestellt: „Nach der Kündigung wurde uns gesagt, entweder du gehst, oder du kannst sofort in dieser Firma anfangen – unter Dumping.“ Dann habe er die neuen Verträge gesehen: „Mit Probezeit noch mal ein halbes Jahr und noch mal ein halbes Jahr, also nicht tariflich festgelegt, Urlaub unter dem, was eigentlich festgeschrieben ist, und Stundenlohn so zwischen 4 und 5 Euro.“ Müller hat nicht unterschrieben: „Das ist Sklaverei. So was unterschreiben meist Leute, die keine Chance haben, sich zu wehren. Mir war klar: Das machst du nicht.“ Der Müllkonzern Alba will sich zu seinen Ausgründungen nicht äußern.

* Name geändert