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Archiv-Artikel

Erzählerin aus einer anderen Zeit

Lenka Reinerová gilt als letzte deutschsprachige Prager Schriftstellerin. Für ihre kulturellen Verdienste hat sie die Goethe-Medaille des Goethe-Instituts bekommen

Sie scheint irgendwie übrig geblieben zu sein aus einer anderen Zeit. Lenka Reinerová, jetzt 87 Jahre alt, hat das 20. Jahrhundert in Höhen und Tiefen gründlich durchmessen. Dass sie es überleben durfte, war purer Zufall. Hätte die Pragerin sich nicht im Ausland aufgehalten, als die Deutschen 1939 auch ihre Heimatstadt besetzten, wäre sie wohl ebenso in den Vernichtungslagern ermordet worden wie ihre gesamte Familie. Die 23-jährige Reinerová, Kommunistin, Jüdin, Journalistin, wurde bereits von der Gestapo gesucht.

Das Mädchen Lenka, in eine deutsch-tschechische Familie geboren, war in den 1930er-Jahren Teil einer stark politisierten Kulturszene gewesen, in der sich die nationalen Zugehörigkeiten noch frei mischten. Mit 15 Jahren hatte sie das Gymnasium verlassen müssen, um Geld zu verdienen. Neben einem öden Angestelltenjob kümmerte die Jungkommunistin sich um die zahlreich eintreffenden deutschen Emigranten, wurde als Fluchthelferin eingesetzt und betreute eine Gruppe von Emigrantenkindern, für die sie Erich Kästners „Pünktchen und Anton“ übersetzte und aufführte: ihre erste literarische Veröffentlichung. Als 19-Jährige wurde sie Redakteurin der exilierten Arbeiter Illustrierten Zeitung.

1948 kehrte Lenka Reinerová mit ihrem jugoslawischen Ehemann in eine Tschechoslowakei zurück, in der soeben eine kommunistische Regierung gewählt worden war. Die Paranoia der Zeit verschonte auch die Genossin Reinerová nicht. Nur mit großer Hartnäckigkeit gelang es der als Westemigrantin per se Verdächtigen, die Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen. Sie bekam Arbeit im Rundfunk, verlor diese 1952 ohne Begründung wieder und wurde einige Wochen später von der Staatssicherheit abgeholt. Über die 15 Monate, die Lenka Reinerová in Untersuchungshaft gehalten wurde, schrieb sie – auf Tschechisch – nach ihrer Rehabilitierung 1964 ein Buch, das nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten noch 1969 erscheinen konnte, nach wenigen Wochen jedoch eingestampft wurde. In einer stark überarbeiteten deutschen Neufassung ist dieser bewegende Bericht soeben im Aufbau-Verlag erschienen („Alle Farben der Sonne und der Nacht“).

Reinerovás Prosa schöpft ausschließlich aus ihrem eigenen Leben, was es schwierig macht, ihr Werk an den üblichen Kriterien der Literaturkritik zu messen. Ein Hang zum Trostreichen ist ihr vorgeworfen worden, zur nostalgischen Verklärung. Den mag es geben, doch verfolgt die Autorin keineswegs den intellektuellen Anspruch, mit ihrem eigenen Leben exemplarisch das Jahrhundert zu durchleuchten. Sie sei nur eine Erzählerin, sagt sie selbst. Doch eben wie sie erzählt, in diesem sehr persönlichen, oft emotionalen und damit irgendwie altmodischen Tonfall, bringt Lenka Reinerová uns die Zeiten, die sie schon durchlebt hat, zum Erschrecken nahe.

Die Goethe-Medaille des Goethe-Instituts Inter Nationes, die Reinerová für besondere Verdienste um die deutsche Sprache im Ausland am Samstag in Weimar verliehen bekommen hat, ist nicht die erste Ehrung, die sie erfährt. Die für sie schönste Anerkennung aber wird wohl immer die Ehrenbürgerschaft der Stadt Prag bleiben: ihrer Heimat, aus der sie immer wieder vertrieben wurde und in die sie immer wieder zurückgekehrt ist.

KATHARINA GRANZIN