Zwei-Klassen-Gesellschaft hinterm Zaun

Im Gaza-Streifen haben sich Juden und Palästinenser auseinander gelebt. Die israelische Armee beherrscht die Straßen, und die Siedler zweifeln an Scharons Worten, da der Streifen auch strategische Bedeutung hat

NEVEH DEKALIM taz ■ Um zu den jüdischen Siedlungen im Gaza-Streifen zu gelangen, muss man auf besonderen Straßen fahren. Straßen, die extra für die Siedler gebaut wurden, die gelegentlich mit Zäunen, aber zumeist mit hohen Mauern von der feindlichen Umgebung geschützt werden. Geboten ist, den Besuch mit den Soldaten abzusprechen, wenn man Geleitschutz haben will. Hat man die Siedlung schließlich erreicht, versichert sich der in der Regel an der Einfahrt postierte Wachmann noch einmal telefonisch, ob und bei wem man angemeldet ist. Hinter martialischen Absperrungsanlagen liegt Neveh Dekalim, die größte der insgesamt 17 jüdischen Siedlungen, die hier errichtet wurden, im südlichen Gaza-Streifen, unmittelbar am Mittelmeer mit seinem wunderschönen, weiten Sandstrand und nur wenige Meter von der palästinensischen Stadt Khan Jounis entfernt. Man braucht kein Fernrohr, um die Menschen dort in den jenseits der schon vor Jahren hier errichteten Mauer sehen zu können.

Früher habe man friedlich mit den Palästinensern zusammengelebt, erinnert sich der Israeli Nissim Sarussi, ein Agrarwissenschaftler mit marrokanischer Abstammung, der hofft, dass es bald wieder so sein wird. Die in den letzten Monaten errichtete Mauer könne schließlich leicht wieder eingerissen werden. Nissim baut Mais an, und das nicht zum Zweck der Vermarktung, sondern zur Erforschung eines ökologischen Insektenschutzmittels. Dazu besprüht er die Pflanzen mit einem Pilz. „Die Hälfte ist behandelt worden, die andere Hälfte nicht“, sagt er stolz und weist auf die Unterschiede bei den Blättern hin. Die unbehandelten Pflanzen sind voller Löcher, während bei den anderen sein Mittel deutliche Wirkung zeigte.

Der 50-jährige Nissim greift sich an den dicken Oberlippenbart. Er hofft, dass sein Produkt Erfolg haben wird. Gemüse und Obst aus dem Gaza-Streifen werden in den israelischen Supermärkten unter einem besonderen Label gehandelt. Und zwar nicht um den Kunden aus den verschiedenen politischen Lagern die Wahl zu erleichtern, sondern weil die frischen Produkte garantiert frei von jeglichem Ungeziefer sein sollen. Das ist für fromme Juden, denen der gleichzeitige Verzehr von Fleisch und Milch untersagt ist, wichtig. Nissim trifft mit seinem Insektenschutzmittel eine Marktlücke. Allerdings fehlt ihm für eine umfangreiche Forschung und Vermarktung das Startkapital. „Wir suchen nach Investoren“, meint er. Das sei derzeit zwar schwierig, doch dass die jüngsten Pläne Scharons, alle jüdischen Siedlungen in den nächsten zwei Jahre zu räumen, die Geldgeber abschrecken könnten, glaubt er nicht. „Ob wir hier unser Produkt erforschen oder 20 Kilometer weiter östlich, macht keinen Unterschied“, sagt er.

Die Familie Sarussi umfasst vier Generationen. Seine Eltern, ein Bruder, die Kinder und die Enkel des Bruders leben in Neveh Dekalim. Der Gaza-Streifen sei für Israel von strategischer Wichtigkeit, da habe es immer schon einen Konsens der Parteien gegeben. „Was Scharon gestern erklärt hat, war völlig überflüssig“, meint Nissim, der nicht daran glaubt, dass der Premierminister es diesmal ernst meint. Dennoch macht ihn „das Gerede“ wütend. „Es verschlechtert die Atmosphäre hier. Wir lecken ohnehin keinen Honig.“ Jeden Tag käme es zu versuchten Übergriffen und Schüssen der Palästinenser. Ob es sich unter diesen widrigen Bedingungen nicht doch besser gleich auf israelischer Seite leben ließe? Nissim verneint. „In Tel Aviv oder Jerusalem ist es auch nicht sicherer als hier.“ Irgendwann werde die Auseinandersetzung ein Ende haben und das friedliche Zusammenleben mit den palästinensischen Nachbarn wieder möglich werden. Etwa 7.500 jüdische Siedler leben heute in den 17 Siedlungen auf rund 40 Prozent des Landes. Fast doppelt so viele wie zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Osloer Vereinbarungen, die als ersten Schritt zur Zwei-Staaten-Lösung die palästinensische Autonomie für den Gaza-Streifen vorsahen.

Hinter der Mauer von Neveh Dekalim liegt das Flüchtlingslager von Chan Junis. Es herrschen unmenschliche Enge und Armut. Neveh Dekalim versperrt den Menschen den Zugang zum Meer. Die frühere Hauptstraße entlang der Küste ist für den palästinensischen Verkehr gesperrt. Etwas nördlich von Chan Junis kreuzen sich die Siedlerstraße und die palästinensische Nord-Süd-Verbindung. Wie durch ein Nadelöhr werden die palästinensischen Autos und Lkws einzeln und mit Abstand an den militärischen Kontrollposten lanciert.

Eine Sonderregelung der Armee verlangt, dass mindestens drei Personen in jedem Fahrzeug sitzen. Die Weiterfahrt ist erst erlaubt, wenn aus einem Betonhäuschen die Hand eines Soldaten erscheint und zur Weiterfahrt auffordert. Wer nicht darauf wartet, riskiert, erschossen zu werden. SUSANNE KNAUL