: Die Durchhalterin
Roddy Doyle geht dahin, wo es weh tut: In seinem neuen Roman „Paula Spencer“ beschreibt er die Fortschritte einer Trinkerin
VON MARGRET FETZER
Paula Spencer ist ein Jedermann, nur dass sie eine Frau ist. Immer wieder erinnert sie sich daran, wie sie einmal einer Frau vorgestellt wurde, die denselben Namen trug wie sie – und das auch noch auf einer Beerdigung, einem Anlass, der einem ohnehin schon die eigene Vergänglichkeit und Unwichtigkeit vor Augen führt. Außerdem trinkt Paula; das heißt, eigentlich trinkt sie nicht mehr, denn seit einiger Zeit ist sie trocken. Doch Alkoholikerin bleibt man sein Leben lang, daran lässt Roddy Doyles neuester Roman, der einfach nur „Paula Spencer“ heißt, so gar keinen Zweifel. Doyle ist einer der Großen der irischen Literaturszene, 1993 hat er für sein Buch „Paddy Clarke Ha Ha Ha“, in dem er den Leser in die Bubenwelt des 10-jährigen Patrick Genocci eintauchen lässt, den Booker Prize erhalten. Wer seinen Helden sogar im Titel „Paddy“ nennt, der zeigt sich als bekennender und selbstbewusster Ire, denn als „Paddies“ bezeichnet(e) die englische Übermacht gern ihre unliebsamen irischen Nachbarn. Auch in Paula Spencer verbindet Doyle das ihm Nächstliegende mit dem Abwegigen, das Irische und Dublin mit der Erzähl- und Lebensperspektive einer Alkoholikerin aus der Unterschicht. Denn so gewöhnlich Paula als Person auch sein mag – bemerkenswert ist, wie Doyle ihr in seinem neuen Roman eine Stimme verleiht und das Gehör seiner Leser verschafft.
Paula ist fast 48 Jahre alt. Seit gut zehn Jahren ist sie Witwe, nachdem ihr gewalttätiger und ebenfalls alkoholkranker Ehemann von der Polizei bei einem Raubüberfall erschossen wurde. Vier Kinder hatte sie mit ihm, eine Tochter ist alkoholabhängig, der älteste Sohn ein Ex-Junkie. Zu viele Klischees, mag man sich denken – doch Doyles Roman erinnert einen schmerzhaft daran, dass Klischees erst dadurch zu Klischees werden, dass sie allzu häufig zutreffen. Zu Beginn des Romans ist Paula gut vier Monate trocken, aber sie selbst nimmt es da wesentlich genauer: „Einer dieser Monate war der Februar. Deshalb hat sie angefangen, die Zeit in Monaten zu bemessen. Weil dadurch drei Tage mehr rauskommen. Aber weil es ein Schaltjahr ist, musste sie einen wieder hergeben.“ Gerade so wie diese Sätze stolpern, so stolpert auch Paula von Tag zu Tag, manchmal sogar von Stunde zu Stunde, wenn die vielen Knochenbrüche, die ihr Charlo beigebracht hat, bei ihren täglichen Putzjobs zu sehr schmerzen und das Verlangen nach der narkotisierenden Wirkung des Alkohols schier unerträglich wird.
Es sind nicht nur die äußeren Verletzungen, sondern mehr noch die inneren, die Paula weh tun. Weniger die, die Charlo ihr angetan hat, als diejenigen, die sie selbst an ihre vier Kinder weitergegeben hat. Einerseits sind es ihre Kinder, von denen zwei, Leanne und Jack, noch bei ihr leben, die ihr überhaupt die Kraft geben, jeden Morgen wieder aufzustehen – und zugleich sind sie alle, ob willentlich oder nicht, lebende Vorwürfe. Vor allem das Verhältnis zu ihren beiden Söhnen liegt Paula am Herzen. John Paul ist zwar weg vom Heroin, aber das heißt noch lange nicht, dass sie einen Draht zu ihm gefunden hätte. Und Jack ist nun einmal der Jüngste, der Einzige, der ihr nie große Sorgen gemacht hat. Umso schlimmer, wenn sich Paula daran erinnert, wie er als Kleinkind vor dem Pub auf sie gewartet hat und sie ihn hingehalten hat, indem sie ihm eine Cola mit Strohhalm nach draußen brachte. Leanne hängt inzwischen selbst an der Flasche, so dass immer Alkohol im Haus ist, was Paulas Trockenbleiben nicht leichter macht. Und so trocken, dass sie ihrer Tochter Ratschläge erteilen könnte, ist Paula noch lange nicht, das macht ihr Leanne unmissverständlich klar. Nicola schließlich, die Älteste, ist sehr erfolgreich und materiell großzügig – wenigstens solange die Rollen so verteilt sind, wie sie es ihr Leben lang gekannt hat: Sie passt auf Paula, ihre Mutter, auf und kontrolliert sie mit regelmäßigen Handyanrufen, nicht umgekehrt.
Doch Paula macht Fortschritte. Sie beginnt wieder zu kochen. Sie räumt beim Konzert der White Stripes den Dreck zusammen und kauft sich danach deren CD. Sie lernt, im Internet zu surfen. Ab und zu geht sie einen Kaffee trinken, freundet sich mit ihrer Nachbarin Rita an und kommt immer besser mit den Eigenarten ihrer beiden Schwestern zurecht. Trotzdem ist „Paula Spencer“ kein typischer Entwicklungsroman, wegen der ständig lauernden Gefahr, dass Paulas ganze Anstrengungen in jedem noch so kleinen Schluck Wodka oder Bier ertrinken könnten. Paula schreibt ständig Listen, um sich unter Kontrolle zu haben. Doch sowie Ungeplantes eintritt, fühlt sie sich wie auf Entzug. Zum Beispiel, als ihre Schwester in Paulas Küche einen Wein trinkt und Leanne dazukommt: „Leanne hat das Glas in der Hand, das Paula für Denise hingestellt hat. Sie steht mit dem Glas in der Hand auf und geht zum Wasserhahn.“ Weil man sich Paulas Erleichterung vorstellen kann, muss der Roman hier kein weiteres Wort verlieren. Überhaupt ist es enorm, wie wenig Worte Doyle braucht, um Paulas Kinder und Schwestern da sein zu lassen. Paula lebt von Gewöhnlichkeit und Gewohnheit, sie hält sich daran fest, und sie weiß es. Immer wieder, an den scheinbar seltsamsten Stellen, schwirrt ein Satz durch Paula Spencer: „Sie war immer für mich da.“ Was für ein Klischee. Aber er ist Paula zugleich Stachel im Fleisch und Ansporn zum Durchhalten.
Ob sie durchhalten wird? Gut möglich, dass Roddy Doyle es uns eines Tages wissen lässt, denn „Paula Spencer“ ist die Fortsetzung seines Romans über „Die Frau, die gegen Türen rannte“. Am Ende dieses Romans, der 1996 erschien, war Paula Ende dreißig, und auf den letzten Seiten von „Paula Spencer“, der zehn Jahre später herauskam, gratuliert ihr ihre Schwester zum 49. Geburtstag. Paula Spencer, der weibliche Jedermann, lebt weiter. Man möchte ihr gerne herzlich dazu gratulieren – auch wenn man niemals mehr wird mit ihr anstoßen dürfen.
Roddy Doyle: „Paula Spencer“. Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. Hanser Verlag, München 2008, 301 Seiten, 21,50 Euro