: Die Bälle hopsen höher
Vor der Europameisterschaft: Warum Jörg Roßkopf der Günter Netzer des deutschen Tischtennis ist und eine Titelverteigung durch Timo Boll in dünner französischer Luft ziemlich wahrscheinlich ist
von HARTMUT METZ
Jörg Roßkopf (33) nicht in den Mannschaftskader der Tischtennis-EM aufzunehmen, wäre wie ein Verzicht auf Günter Netzer bei der Fußball-WM 1974 gewesen. Der geniale Mittelfeldstratege befand sich damals lange nicht mehr in der grandiosen Form von 1972 – aber es wäre ein Sakrileg gewesen, Netzer zwei Jahre nach dem EM-Gewinn auszubooten. Bei Jörg Roßkopf schreckte Cheftrainer Dirk Schimmelpfennig ebenso vom Denkmalsturz zurück. Am Fuße des Montblanc, in Courmayeur, steht der 250-fache Rekordnationalspieler morgen im Fünferkader des Deutschen Tischtennis-Bundes (DTTB).
Auch wenn Roßkopf beteuert, er habe sich zuletzt gesteigert und sei in guter Form, bedurfte es doch eines Bauernopfers: Lars Hielscher. Der zehn Jahre jüngere Düsseldorfer hat in der Bundesliga an hinterer Position 7:4 Punkte geholt und dabei auch Roßkopf im direkten Duell geschlagen. Roßkopf brachte es in der Rückrunde nach über einjähriger Verletzungspause auf gerade mal 3:3 Zähler bei Gegnern, die der Linkshänder früher allesamt locker abgefertigt hätte. Doch Roßkopf hat einen Traum, den ihm niemand – nicht einmal Hielscher, der ohne Murren die Entscheidung hinnahm – entreißen kann: Mannschafts-Europameister möchte er werden. Dieser Titel fehlt dem ehemaligen Einzel-Europameister, Weltcup- und zweifachen Olympia-Medaillengewinner noch. „Es ist ein sehr großes Ziel von mir, endlich Gold zu holen“, sagt Roßkopf.
Seit seine Karriere 1989 mit dem WM-Sieg im Doppel mit Steffen Fetzner begann, verleideten ihm Jan-Ove Waldner und Jörgen Persson die letzte Krönung. „Wir hatten immer das Pech, dass wir auf die goldene Mannschaft von Schweden trafen“, klagt er. Spätestens im EM-Finale war gegen die Skandinavier Endstation; 1990 und 2000 mit Roßkopf, im Vorjahr ohne das verletzte Rückhand-Ass. Inzwischen sind die alten Schweden aber noch älter. Die Deutschen bauen hingegen auf den 22-jährigen Timo Boll, der Waldner & Co. schon in Zagreb beim 2:3 beide Punkte abknöpfte. „Wir haben mit ihm den weltweit besten Spieler“, unterstreicht der dreifache Mannschafts-Vizeeuropameister Torben Wosik (Frickenhausen) und zählt sich wie Zoltan Fejer-Konnerth (Karlsruhe-Neureut), Bastian Steger (Borussia Düsseldorf), Roßkopf und Hielscher zu den „fünf gleichwertigen Akteuren dahinter“.
„Wenn wir am Samstag gut gegen die Griechen ins Achtelfinale einsteigen, sehe ich die Gelegenheit, Europameister zu werden“, meint Bundestrainer Istvan Korpa. Im Viertelfinale könnte es dann gegen Jugoslawien gehen, erst im Endspiel gegen Weißrussland oder Schweden.
Zu den 64 deutschen EM-Medaillen seit 1958 dürften sich mehr denn je hinzugesellen. Der Weltranglistenerste Boll ist im Einzel noch mehr als im Doppel mit Fejer-Konnerth stark genug für die Titelverteidigung. „Ich brauche mich in keinem Wettbewerb zu schonen, weil ich konditionell auf der Höhe bin“, sagt Boll. Seine zwei Niederlagen am Sonntag in Ochsenhausen – erst die sechste und siebte in 32 Bundesliga-Spielen – waren dem harten Vorbereitungslehrgang in Heidelberg geschuldet.
Im Bundesleistungszentrum fehlte Nicole Struse. Die fünffache Europameisterin vom FSV Kroppach hatte einen Hörsturz erlitten, soll aber bis zum Auftakt am Sonntag im Viertelfinale gegen den Sieger aus Italien und Frankreich wieder fit sein. Die deutschen Damen mit Jessica Göbel (Langweid) und Elke Wosik, Tanja Hain-Hofmann und Laura Stumper können vor allem im Team und im Doppel die deutsche Medaillenbilanz weiter auffrischen. Im Einzel besitzen Struse wie Wosik, die seit dem Wechsel nach Busenbach in der Bundesliga besser denn je spielt, Außenseiterchancen.
„Für mich hat sich wenig geändert. Ich komme mit dem Druck zurecht“, beruhigt Boll seine explosionsartig gewachsene Fangemeinde. Die Luft wird für ihn aus einem anderen Grund etwas dünner: Courmayeur liegt in den Alpen, 1.200 Meter hoch. „Der Ball springt dadurch etwas höher ab“, weiß Boll. Der Europameister bereitet sich deshalb schon seit Mittwoch vor Ort auf die leicht veränderte Spielsituation vor, zu der auch die französischen Tische der Marke „Cornilleau“ beitragen. „Bis Samstag hat sich das eingespielt“, sagt der Weltranglistenerste. Das hofft vor allem Roßkopf, der es zunächst als „zufriedenstellend“ empfand, überhaupt dabei zu sein. Am Dienstag, im Mannschafts-Finale um 16 Uhr, will er dann aber mehr als nur dabei sein.