: Kriterien des Krieges
Am Mittwoch erst erhielt der Sender al-Dschasira einen Medienpreis für die „beste Umgehung von Zensurmaßnahmen“ – tags darauf beschuldigen ihn Militärs der Propaganda für Saddam Hussein
von STEFFEN GRIMBERG
Im Medienkrieg am Golf hat die Anti-Saddam-Koalition endgültig die Propagandakeule ausgepackt. Im Mittelpunkt steht, wie zu erwarten, al-Dschasira. Für seine bahnbrechende Arbeit im zuvor von reinen Staatssendern dominierten Nahen Osten bekam der arabische Nachrichtenkanal am Mittwochabend in London den Preis für Meinungsfreiheit der britischen Organisation Index on Censorship – für die „beste Umgehung von Zensurmaßnahmen“. Doch am Donnerstagmorgen war er dann plötzlich auch für die britischen Militärs nur noch ein Teil der irakischen Propagandamaschine.
Al-Dschasira berichtet als einziger Sender umfangreich über die Situation der Zivilbevölkerung und die Kriegstoten oder Kriegsgefangenen im Irak. Dieses Material wird mit Ausnahme der meisten US-Sender weltweit übernommen.
Air Marshall Brian Burridge, Kommandeur der britischen Truppen am Golf, warf al-Dschasira gestern zum Abschluss seines täglichen Briefings vor, der Sender verbreite „Propaganda mit seinen Bildern von Kriegsopfern“. Al-Dschasira hatte am Mittwoch Aufnahmen von zwei toten Soldaten ausgestrahlt, die angeblich britische „Desert Rats“ zeigten. Sie sind nach Kämpfen außerhalb von Basra offiziell als vermisst gemeldet.
Noch während des live von der BBC übertragenen Pressebriefings wies der anwesende al-Dschasira-Korrespondent die Vorwürfe zurück: Sein Sender sei weder das Sprachrohr von Saddam Hussein, noch lasse man sich von den Koalitionsmächten USA und Großbritannien vereinnahmen. „Ich weiß, dass Ihr Management diesen Anspruch vertritt“, antwortete Burridge: „Aber mit diesen Aufnahmen haben Sie sich zum Propagandasender gemacht.“ Militärsprecher in Großbritannien warfen al-Dschasira einen „verabscheuungswürdigen Bruch der Genfer Konvention“ vor. Auch wenn diese absurde Interpretation im Endeffekt bedeuten würde, dass Medien im Krieg überhaupt keine toten oder verwundeten Soldaten zeigen dürften, befinden sich die britischen Militärs in bester Gesellschaft: US-Verteidiungsminister Donald Rumsfeld hatte al-Dschasira bereits nach den ersten Aufnahmen von US-Kriegsgefangenen als „Propagandawerkzeug der Irakis“ bezeichnet. Am Dienstag wurde dem Sender der Zugang zur New Yorker Börse mit dem Hinweis verweigert, Berichterstattung sei „verantwortungsbewussten Sendern“ vorbehalten.
Die Bitte des britischen Premierministers Tony Blair, die Aufnahmen von den toten Briten nicht weiter auszustrahlen, wies al-Dschasira gestern zurück. Man sende das Material nicht wie vorgeworfen „auf Teufel komm raus“, werde sich aber auch weiterhin lediglich von journalistischen Kriterien wie dem „Nachrichtenwert und der Relevanz“ leiten lassen, zitierte der Guardian einen Sendersprecher.
Der erst am Montag eröffnete englische Onlinedienst des Senders (english.aljazeera.net) ist seit Mittwoch nicht mehr zu erreichen. Unklar blieb, ob es sich lediglich um Überlastung der „vorläufigen“ Website handelte –oder die Site gehackt wurde.