: „Abstrakte Bilder“
Der Filmemacher Samir erinnert sich an seine Kindheit im Irak der Fünfzigerjahre: „Bagdad war vom Aufbruch in die Moderne geprägt“
Interview CRISTINA NORD
taz: Samir, Sie waren sechs Jahre alt, als Ihre Eltern 1961 den Irak verließen und in die Schweiz auswanderten. Wie erinnern Sie sich an das Bagdad Ihrer Kindheit?
Samir: Wir lebten zuerst auf dem Land, weil mein Vater Elektroingenieur war. Meine ersten Erinnerungen waren der Tigris, die Palmen und die Wüste, gelb und weiß. Es wurden große Irrigationsprojekte und Staudämme gebaut. Das ganze Land war beseelt von einem großartigen Fortschrittsglauben. Bagdad war – abgesehen vom schiitischen Quartier Khadhmia mit seinen engen Gassen und der großen Moschee – vom Aufbruch in die Moderne geprägt. Auch im Kleidungshabitus. Auf den Familienfotos trugen meine Tanten weite Röcke im Stil der 50er-Jahre, flache Schuhe, Blusen, klassische Frisuren. Kopftücher trug man praktisch nie, außer man ging zu einem Picknick in die Wüste.
Einen Schleier trug niemand?
Nur meine alten Großtanten und meine Großmutter. Die zogen diesen schwarzen Umhang an, den man im Iran Tschador nennt. Wenn meine Mutter oder meine Tante meine Großmutter begleiteten, zogen sie den Umhang über ihre moderne Kleidung. Mein Lieblingsbild ist folgendes: Wenn ein Windstoß kam, wirbelte der schwarze Umhang wie eine flatternde Krähe. Darunter kam eine absolut feminine Figur zum Vorschein.
Sind Sie nach 1961 regelmäßig im Irak gewesen?
Nein. Die Familientreffen fanden im Libanon statt, da die meisten Verwandten der Kommunistischen Partei angehörten. Erst als Saddam Hussein in den 70er-Jahren seine Schaukelpolitik zwischen der Sowjetunion und dem Westen einrichtete, wurden die ehemaligen Kommunisten toleriert. Mein Vater ist in den Irak zurückgegangen, hat der Partei abgeschworen und musste sich verpflichten, sich nicht mehr politisch zu betätigen. Ich hatte das Problem, dass ich zum Militär gemusst hätte, weil ich noch einen irakischen Pass besaß.
Und wann waren Sie zum ersten Mal wieder dort?
Als ich den Schweizer Pass hatte. Das war Ende der 70er-Jahre, noch vor dem Iran-Irak-Krieg, dem ersten Golfkrieg. Damals war der Mittelstand zum ersten Mal eine konstituierende Kraft. Wenn man sich in Bagdad bewegte, merkte man: Es gab Leute, die hatten einen gewissen Wohlstand, und es waren nicht nur ein paar wenige wie in meiner Kindheit, sondern viele. 1978 war der Höhepunkt des säkularen Iraks.
Was sich während des Krieges änderte.
Es ist alles umgekippt. Erstens, weil die Leute während des Krieges immer mehr verzweifelten. Die armen Schichten erbrachten große Opfer, und sie waren die Ersten, die empfänglich waren für religiöse Propaganda. Zweitens behauptete sich Saddam gegenüber dem Iran als religiöser Führer, damit man nicht sagen konnte, er sei ein Ungläubiger. Was er natürlich ist; die Baath- Partei war überhaupt nie religiös geprägt, sie war nur an Macht interessiert.
Wie bringen Sie Ihre Erinnerungen und die Nachrichtenbilder, die Sie zurzeit sehen, zusammen?
Das sind ja zwei verschiedene Dinge! Wenn ich die Innenstadt von Bagdad sehe, wie sie die Standkameras zeigen, dann liegt für mich dahinter immer noch etwas anderes. Wenn man die Siegessäule sieht, weiß man, darunter liegt ein Park. Das bedeutet etwas: Erinnerungen, wie man im Sommer dort spazieren gegangen ist, wie man herumgeschmust hat, die Gerüche der Bäume. Dieser Effekt des Wiedererkennens ist die eine Seite. Auf der anderen Seite sind es doch abstrakte Bilder. Zum Beispiel, wenn der Palast Saddam Husseins getroffen wird: Den habe ich immer nur von außen gesehen. Von mir aus können sie den völlig platt machen. Er war sowieso ein hässliches Ding.
Erkennen Sie denn konkrete Orte in der Stadt?
Ich habe mich dabei erwischt, dass ich versuche, die Bilder Straßen und Quartieren zuzuordnen. Bagdad ist eine riesige Stadt von fünf Millionen Einwohnern, so dass das nicht leicht ist. Einmal sah ich eine Stellung an der Palestine-Straße. Republikanische Garden hatten sich dort eingegraben. Der Kommentator sagte, es seien Milizen. An den Uniformen war aber klar zu erkennen, dass es Garden waren, die ihre Stellung gegen das nächste Außenquartier aufgebaut hatten. Dort, im schiitischen Quartier Saddam City, lebt meine Tante. Und die Garden sind in Stellung gegangen, damit sie einen möglichen Aufstand in Saddam City niederschlagen können. Ich erkannte die Kreuzung gleich. In solchen Momenten beschleicht einen natürlich schon ein beklemmendes Gefühl. Wenn diese Stellung von den US-Amerikanern bombardiert wird, sind es noch 200 Meter bis zum Haus meiner Tante. Und alle Militärwissenschaftler wissen, dass die Präzisionswaffen ihre Ausfälle haben.
Gibt es etwas, was Sie derzeit an den Nachrichtensendungen stört?
Die Entmenschlichung. Man sieht diesen doofen Schnauzträger und seine Folterknechte, aber keine reellen Iraker. Ab und zu dürfen sie durch den Bildhintergrund laufen, ganz selten sagen sie zwei Wörter. Ich gucke oft CNN, aus professionellem Interesse. Die Familie von jedem gefangen genommenen US-amerikanischen oder britischen Soldaten wird interviewt, so dass ihr Schmerz und ihr Verlust greifbar werden – sogar im Fall des ersten Gefallenen, dessen Vater sagte: „Mr. Bush, Sie haben mir den Sohn weggenommen.“
Hat sich aus Ihrer Sicht in der Berichterstattung etwas geändert seit dem zweiten Golfkrieg?
Das Pentagon hat gelernt vom letzten Golfkrieg. Es sieht jetzt authentischer nach Krieg aus. Eine Sache hat mich sehr überrascht: Der Süden war sehr starken Repressalien durch das Regime ausgesetzt. Daher hatte ich ein freudiges Entgegenkommen erwartet, nicht unbedingt, dass die Iraker den Soldaten Blumen zuwerfen, aber schon, dass sie, wenn ein Konvoi vorbeifährt, freundlich winken und in ihrer Mimik so etwas wie Hoffnung zu sehen ist. Zu meiner Verblüffung strafen sie die Soldaten mit Nichtbeachtung. An einem Tier geht man so vorbei.