: Ein Linker entdeckt die Geopolitik
Giulietto Chiesas konsequent machiavellistisches Szenario zeichnet ein klares Bild der Interessen der großen Mächte
Ignorieren wir die moralisch überdüngte Kapitalismuskritik: Die sollte Giulietto Chiesa eher Naomi Klein überlassen. Überlesen wir das Geraune um die wahren Hintergründe des 11. September: Chiesa ist nicht so verschwurbelt, dass er da mit Matthias Bröckers mithalten könnte. Vergessen wir also die effekthaschende Füllmasse, die zwei Drittel des Buches ausmacht, bleiben wir beim harten Kern – einem geopolitischen Szenario für die nächsten 20 Jahre. Und das geht so:
– Die USA nehmen auf nichts und niemand mehr Rücksicht. An der Achse des Bösen entlang setzen sie ihre Kriegsmaschine ein, um die Weltgeltung der US-Kapitalismusvariante zu sichern.
– Die einzige Macht, die den USA dabei militärisch gefährlich werden kann, ist China. Doch es wird noch etwa 15 Jahre dauern, bis China ökonomisch stark genug ist, die USA herauszufordern. Amerika schießt sich deshalb schon mal ein: Die Kriege gegen Afghanistan (2001) und Irak (2003), Iran und Nordkorea (demnächst) bringen die eigenen Truppen näher an China heran und verkleinern den Aktionsradius des Gegners.
– Die einzige Macht, die den USA zurzeit ökonomisch gefährlich werden kann, ist Europa. Euro und soziale Marktwirtschaft stehen dem Herrschaftsanspruch von Dollar und Turbokapitalismus im Weg. So lange Europa aber politisch uneins ist, kann seine ökonomische Alternative keine Strahlkraft entfalten, ist für die USA also eher lästig als bedrohlich.
– Russland ist zu schwach, um direkter Gegner der USA sein oder werden zu können. Doch es grenzt sowohl an Europa als auch an China, es fühlt und denkt sowohl asiatisch als auch europäisch. Damit ist es von zentraler strategischer Bedeutung im Kampf um die Weltherrschaft, auf welcher Seite Russland sich schlägt.
– Der Nahe Osten verliert an strategischer Bedeutung. Israel wird die Palästinenser liquidieren, das saudische Königshaus fallen; aber mit einem Protektorat im Irak und Pipelines durch Turkmenistan brauchen sich die USA darum nicht mehr zu kümmern.
Giulietto Chiesas konsequent machiavellistisches Szenario hat zwar einige paranoide Züge – so seine Vorstellung von der „Kommandobrücke“, auf der die eigentlichen Herrscher der Welt entscheiden, wer US-Präsident wird und gegen wen er Krieg führt. Aber er zeichnet ein klares Bild der Interessenlagen der großen Mächte; und das kann helfen, in der Aufgeregtheit der jeweils aktuellen Krise die eigentlichen Hintergründe zu begreifen.
Chiesa kann zwar auch nicht so recht beantworten, wie man dieser sich abzeichnenden Weltordnung entgehen könnte. Aber in Zeiten wie diesen ist es ja schon viel wert, wenn jemand sie wenigstens ordentlich analysiert. Geopolitik gilt seit langem als Domäne der Rechten. Es sieht so aus, als müsste die Linke sich auch damit beschäftigen. „Das Zeitalter des Imperiums“ ist ein guter Einstieg dafür.
DETLEF GÜRTLER
Giulietto Chiesa: „Das Zeitalter des Imperiums. Europas Rolle im Kampf um die Weltherrschaft“, aus dem Italienischen von Bettina Müller-Renzoni, 232 Seiten, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg, 2003, 15,90 €