peter paradise Schlange stehen für indische Macbeth-Adaptionen
: Wer braucht schon Filmkunst?

Kaum hat die Berlinale begonnen, läuft wieder alles wie geschmiert. Festivaldirektor Dieter Kosslick umtanzt Abend für Abend leichtfüßig und galant die prominenten Gäste auf dem roten Teppich; die zahllosen Journalisten beherrschen den Weg von der S-Bahn-Station zum Berlinale-Palast wie im Schlaf; die Filmarbeiter – die Regisseure, Schauspieler, Produzenten und Händler – vermitteln den Eindruck zufrieden wuselnder Betriebsamkeit, während die zahlenden Gäste es sich in den endlosen Schlangen gemütlich gemacht haben, die für Interessierte ganz praktisch hier und da zum Anstellen bereit stehen. Kurzum: Es ist ein bisschen wie immer, und weil es wie immer ist, ist es auch gut.

Und so gesehen ist die Berlinale denn auch nicht das Publikumsfestival, für das man es gern hält, sondern ein herrliches Familienfest. Man weiß um die Abläufe; man kennt sich, man sieht sich, man freut sich. Man entwickelt Verständnis für einander und klopft jenen, die vielleicht stundenlang vergeblich nach einer Eintrittskarte angestanden haben und anschließend traurig, enttäuscht und gottverlassen durch die Gassen schlendern, aufmuntert auf die Schulter und sagt: „Nicht so schlimm, es steht ja morgen in der Zeitung, wie es war.“ Und da am nächsten Tag tatsächlich in der Zeitung stehen wird, dass dieser oder jener Film, aus diesen oder jenen wirklich profunden ästhetischen, theoretischen und auch körperpolitischen Gründen durch und durch misslungen war, ist die Enttäuschung auch schnell wieder vergessen.

Der Potsdamer Platz, über den man so häufig so schlecht spricht, ist dabei über die Jahre zu einer zweiten Heimat geworden. Es ist zwar unbestritten, dass er mit gewissen architektonischen Nachteilen geschlagen ist, doch wirken diese inzwischen so wohl bekannt, dass man sie gern übersieht. Man kann sie ohnehin nicht weg beschweren. Dafür lernt man andere Dinge schätzen – den frischen Backfischduft, der im Vorbeigehen aus der Gosch-Sylt-Filiale weht, die gemütlichen Klappsitze im Berlinale-Palast, die Flüssigseife in den Gästetoiletten des Hyatt-Hotels –, nebensächliche Dinge zwar, doch Dinge, die das unbestimmte Gefühl der Vertrautheit vermitteln.

Folglich geht es bei der Berlinale auch nur vordergründig um das Programm. Die Filme, von denen manche besser und manche schlechter gefallen, sind in Wirklichkeit nur austauschbares Material aus dessen Häufung sich sozusagen das Ereignis Berlinale ergibt. Und das Ereignis ist dabei das Ereignis selbst, hinter dem die vordergründig so wichtige Filmkunst verblasst. „Unterwegs nach Cold Mountain“ war also ein miserables Machwerk? – Egal, als Eröffnungsfilm hat er irgendwie getaugt. „Was das Herz begehrt“ hält nicht, was der Titel verspricht? – Na und, immerhin lockte der Film Jack Nicholson nach Berlin. Und ist „Zwölf Stühle“, der neue, über dreistündige Film der gefürchteten Filmemacherin Ulrike Ottinger nicht nach allem, was man über die menschliche Aufmerksamkeitsspanne weiß, einfach viel zu lang? – Was soll’s, irgendjemand wird die Vorführung schon durchhalten und sich über seine Tapferkeit, seine Offenheit und nicht zuletzt seine Geduldigkeit freuen.

Tatsächlich sind Filmfestspiele ja auch dazu da, unglaublich viele Filme zu zeigen, für die sich während der festspielfreien Zeit nachweislich kein Mensch interessiert. Und so ist es allein dem Ereignis Berlinale zu verdanken, dass sich beispielweise plötzlich Massen von Menschen um Karten für zutiefst unverständliche usbekische Kunstfilme balgen oder ihr Herz für kunterbunte indische Macbeth-Adaption entdecken, die interessanterweise in Gesangsform dargeboten werden. Schon deshalb muss man die Berlinale einfach lieben.

HARALD PETERS