: Der alte Tor und das Mädchen
Melancholie und Gossensprache: Nach dreijähriger Pause eröffnen die Münchner Kammerspiele wieder mit Luk Percevals „Othello“ ihr frisch renoviertes Schauspielhaus – mit verständlichen Buhs und sehr richtigem Jubel. Das Spiel der Akteure bleibt schlicht, die Illusionsmaschinerie wird zurückgefahren
von SABINE LEUCHT
Das Unheil wächst den Menschen aus der Körpermitte zu. Dort muss Jago so verletzt worden sein, dass ihm nur noch Fick-Fotze-Scheiß-Sprak über die Lippen kommt. Ob Gattin Emilia wirklich ständig „10 Finger in 10 Pasteten“ hat und es mag „wenn man ihr ins Gesicht spritzt“, spielt letztlich kaum eine Rolle. Jago glaubt’s, macht den verhassten „Schoko“ Othello Ähnliches von Desdemona glauben – und als das klappt, macht’s ihm noch nicht mal Spaß. Eine große Glocke der Traurigkeit hängt über Venedig.
Die Münchner Kammerspiele, deren Stammhaus am Samstag nach über drei Jahren Baustaub und Finanzskandalen bunt und strahlend wiedereröffnet wurde, haben einen neuen Hit im Programm. Einen, an dem sich die Gemüter erhitzen und die Geister scheiden werden. Bei der Premiere von Luk Percevals „Othello“ ernteten Regie und (Drehbuch-)Autorenteam (Feridun Zaimoglu, Günter Senkel) engagierte Buhs und demonstrative Bravorufe. Und beides kann man verstehen.
Ein kleines „Buh“ jedenfalls scheint gerechtfertigt für die beständig am Ziel vorbeipreschende Gossensprache, die zweifellos dem „Kanak Sprak“- Autor Zaimoglu zuzuschreiben ist. Allerdings müssen die Buhschreier übersehen haben, wie wenig ernst Perceval das alles nimmt: Wenn der Jago des Wolfgang Pregler mit unbewegter Miene an der Rampe steht und vulgären Kunstslang ausstößt wie zähe Lava, hört man weniger den Wortlaut als die Laute eines in Kälte erstarrenden waidwunden Tiers. Der betrogene, von General Othello bei der Beförderung übergangene und von „Scheißschwul Cassio“ überflügelte Jago leidet. Rodrigo leidet, weil ihn Desdemona nicht liebt; und die anderen leiden aus ähnlichen Gründen. So raubt die über allem liegende bleischwere Melancholie noch dem pubertärsten Salbader jede Wichsvorlagen-Ähnlichkeit. Mehr noch: Der Sprachbrei, mit dem sich hier verletzte Männchen Erleichterung verschaffen, dient auch dem Zuschauer als eine Art Ventil: Wie das verärgerte Kopfschütteln über George W. Bush hilft er beim Verdauen des schweren Tragödien-Rests.
Überhaupt kümmert sich Percevals Inszenierung mehr um den Seelen- und Gefühlshaushalt aller als um die Augenlust: In den ersten Szenen sieht man die Männer in ihren schwarzen Anzügen bloß als gesichtslose Schemen; jeder für sich in Bewegung wie einsame Tiger im Käfig. Katrin Bracks schmucklos-schwarze Bühne steht dabei in krassestem Gegensatz zum farbenprächtigen Wand- und Deckenschmuck des altneuen Jugendstiltheaters. Ob Intendant Frank Baumbauer den lange erwarteten Einzug ins Schauspielhaus aus Berechnung so schroff begeht? Der Abstand zu Dieter Dorn jedenfalls, der hier 25 Jahre lang eher harmonisch-gepflegt mit dem Raum kommunizierte, könnte größer kaum sein.
Wie auch immer: Den Flamen Luk Perceval hat Baumbauer für Deutschland entdeckt, als er ihn bei den Salzburger Festspielen den Rosenkrieg-Marathon „Schlachten!“ inszenieren ließ – die Inszenierung des Jahres 2000, mit Thomas Thieme als „dirty motherfucker“ Richard III. Heute ist Thieme ein Othello ganz ohne schwarze Farbe. Dafür wird Emilia (die in der Münchner Fassung mit Cassios Geliebter Bianca verschmilzt) von der farbigen Schauspielerin Sheri Hagen gespielt: Eine vornehm wirkende, wenn auch übel beleumundete Beobachterin des Intrigenspiels.
Der Rassismus, von dem auch das Shakespear’sche Original voll ist, ist hier nicht primär Sache der Hautfarbe, er findet in den Köpfen statt. Auch in denen der Opfer. „Du bestehst darauf, du seiest schwarz“, sagt Desdemona. „Ich bin schwarz“, sagt Othello, nachdem er an sein Glück nicht mehr glaubt. Zuvor war der siegreiche Heerführer weicher als Wachs in den Händen seines Mädchens – und Teil einer wunderbar geglückten Theater-Paarung: Wenn die Desdemona der Julia Jentsch (das vielleicht größte junge Talent im Baumbauer-Team) den mächtigen Leib ihres Mannes erklettert wie einen alten Baum, wenn sie ihn – Stirn gegen Stirn – einem tapsigen Tanzbären gleich über die Bühne schiebt, dann ist klar, wie fremd sich diese Liebe zur Welt verhält – und wie prekär ihr Gleichgewicht ist.
Das alles würde man längst nicht so intensiv empfinden, säße nicht in der Mitte der Bühne Jens Thomas am Flügel. Jeden Abend aufs Neue haut, klopft und streichelt er jazzige Improvisationen in sein Instrument – und die Wirkung ist grandios: Fast ganz kann Perceval die Illusionsmaschinerie zurückfahren, und doch bleibt ein Übermaß an Atmosphäre, in der das Spiel der Akteure ganz schlicht bleiben darf.
„Ich mach sie kaputt“, sagt Thieme, der traurige Bühnenstoiker, der aber schlussendlich – anders als bei Shakespeare – mit Desdemona weiterleben muss. Beide mit schweren Verletzungen, die in der Körpermitte begonnen haben und von denen keiner recht weiß, ob sie nach außen wachsen werden wie der Hass oder ganz tief hinein, wo nur die Seelen sterben.