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Archiv-Artikel

„Gerade eine Familie getötet“

Seit dem Selbstmordanschlag vom Samstag sind die US-Soldaten im Irak sehr verunsichert. Und schießen auch mal, ohne genau zu wissen, auf wen

von BARBARA OERTEL

Der junge US-Sanitäter war verstört. „Das war das Schrecklichste, was ich jemals gesehen habe, und ich hoffe, dass ich so etwas niemals wieder sehen werde“, sagte Mario Manzano der Washington Post. Eine der verletzten Frauen im Fahrzeug hätte die verstümmelten Leiber ihrer beiden Kinder in den Armen gehalten. „Sie wollte den Wagen um keinen Preis verlassen.“

Kurz zuvor hatten amerikanische Soldaten an einem Kontrollpunkt der US-Streitkräfte in der Nähe der irakischen Stadt Nadschaf 160 Kilometer südlich von Bagdad das Feuer auf einen Kleinbus eröffnet. Nach offizieller Darstellung des Pentagons habe der Fahrer des Kleinbusses auf Aufforderungen und Warnschüsse nicht reagiert und sein Fahrzeug nicht gestoppt. Erst danach hätten die Soldaten zuerst auf die Motorhaube und dann in den Fahrgastraum gefeuert. Bei dem Zwischenfall, der noch untersucht werde, seien sieben Frauen und Kinder getötet sowie zwei Personen verletzt worden. Vier weitere Insassen seien unverletzt geblieben.

Da hört sich die Version des Washington-Post-Reporters William Branigin, der als „embedded journalist“ der US-Truppen Augenzeuge des Vorfalls wurde und auch den Sanitäter interviewte, etwas anders an. Branigin zufolge hätten sich in dem Fahrzeug 15 Personen befunden, von denen zehn – darunter fünf Kinder jünger als fünf Jahre – getötet und zwei Personen schwer verletzt worden seien. Auch hätten die Soldaten nicht rechtzeitig Warnschüsse abgegeben. Der Kapitän der 3. Infanterie-Division, Ronny Johnson, wird mit folgendem Auspruch an die Adresse seines Zugführers zitiert: „Sie haben gerade eine Familie getötet, weil Sie den Warnschuss nicht rechtzeitig abgefeuert haben.“

Drei der Überlebenden hätten schließlich die Erlaubnis bekommen, die Körper ihrer Angehörigen zu bergen. „Ärzte gaben der Gruppe zehn Leichesäcke. US-Offizielle boten eine unbestimmte Summe Geldes zwecks Entschädigung an“, schreibt Branigin weiter.

Zwar entschuldigte sich die US-Armee gestern für den Vorfall bei Nadschaf. „Dieser Zwischenfall beunruhigt uns sehr, und es tut uns leid, dass er geschehen ist“, sagte der Kommandeur der 3. Infanteriedivision, General Buford Blount. Doch wurde die förmliche Entschuldigung sogleich durch den US-Militärsprecher Frank Thorp konterkariert. Die Regierung von Saddam Hussein sei für den Vorfall verantwortlich, da immer wieder Zivilpersonen als menschliche Schutzschilde missbraucht würden, sagte Thorp.

Doch ob nun Entschuldigung oder Schuldzuweisung: Die Rhetorik kann nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass die US-Truppen vor Ort sehr nervös sind. Wohl nicht zufällig gehören die Todesschützen von Nadschaf genau derselben US-Infanteriedivision an, die bei einem Selbstmordanschlag am vergangenen Samstag rund 30 Kilometer weiter nördlich vier Soldaten verlor.

Die Verunsicherung unter den Soldaten wächst weiter. Und damit auch die Gefahr, den Finger zu schnell am Abzug zu haben. Nur wenige Stunden nach dem Vorfall bei Nadschaf feuerten US-Marinesoldaten gestern auf einen Laster, der sich ihnen an einem Kontrollpunkt außerhalb des Ortes Schatra südlich von Bagdad näherte. Der Fahrer wurde getötet, sein Beifahrer verletzt. Der Laster sei unbeladen und keiner der Insassen bewaffnet gewesen, räumten die Soldaten später ein. Einer wird mit dem Satz zitiert: „Ich dachte, es war ein Selbstmordattentäter.“

Irakische Quellen berichteten gestern von einem weiteren US-Angriff auf Zivilisten. Danach soll ein US-Kampfflugzeug zwei Busse mit westlichen Friedensaktivisten auf der Straße zwischen Bagdad und Amman angegriffen haben. Mehrere Menschen seien verletzt worden, sagte Informationsminister Mohammed Said al-Sahhaf.

Auch wenn das US-Militär mangels Informationen diesen, vorerst letzten, Zwischenfall noch nicht bestätigen wollte, stellt sich die Frage, wie ernst Washington seine Ankündigung noch nimmt, zivile Opfer so weit wie möglich zu vermeiden, verbunden mit der Erwartung, die irakische Zivilbevölkerung auch noch für sich gewinnen zu wollen. Die Ankündigung von US-Präsident George Bush vor US-Marine-Offizieren in Philadelphia, die Angriffe nicht zu stoppen bis der Irak befreit sei, muss für die Iraker zum jetzigen Zeitpunkt wohl eher wie eine Drohung klingen. „Der Vorfall von Nadschaf wird die Versuche der US-geführten Truppen zunichte machen, sich selbst als eine Befreiungsarmee darzustellen“, sagt der BBC-Korrespondent in Katar, Peter Hunt. „Vielmehr entsteht der Eindruck einer Armee, die erst schießt und dann Fragen stellt.“ Der britische Innenminister David Blunkett gab zu: „Wir wissen, dass wir im Moment noch als Schurken angesehen werden.“